Kapitel 31 - Siras

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Der Kompass zeigte auf das alte Leuchtfeuer. Der Held brauchte es nicht zu entzünden, er hatte eine viel stärkere Lichtquelle. Der Stein strahlte hell auf, als er an seinen Platz gelegt wurde.

1. Siras, der Herrscher von Yunyianna stand auf dem Balkon im obersten Zimmer des höchsten Turmes der Schattenzitadelle. Eine leichte Brise wehte durch sein Haar und ließ es im Wind wehen. Seine goldenen Augen blickten über das geschäftige Treiben der Stadt unter ihm. Die Sonne warf ihre Strahlen auf die Szenerie und ließ eine trügerische Idylle entstehen, einem Landschaftsgemälde gleich, in dem der Maler das Motiv in der schönsten Momentaufnahme einfriert, die wahre Welt jedoch verfehlt. Die wahre Welt war grausam. Siras hasste die wahre Welt. Er wollte sie vernichten. In seinen Augen glich sie einem Krebsgeschwür, das man nur bekämpfen konnte, indem man es gänzlich entfernte und dennoch, im Moment lag sie so friedlich vor ihm. In solchen Augenblicken keimte ein surreales Gefühl der Zuneigung in ihm auf. Er fühlte sich an frühere Zeiten erinnert, in denen er mit seinen Brüdern auf den Gipfeln der Berge gesessen hatte und die jungen Menschen beobachtete. Verletzlich, wie Ameisen, die man unter seinem Stiefel zermalmen konnte und doch gemeinsam zu allem fähig. Dennoch, heute fühlte Siras weder seinen Hass, noch seine trügerische Nostalgie. Ein Gefühl tiefer Unruhe hatte ihn ergriffen. Er wusste nicht weshalb, er wusste nicht seit wann, er wusste nur, dass es da war und an seinem Herzen nagte. Manchmal glaubte er Präsenzen zu spüren, die er vor vierhundert Jahren zum letzten Mal wahrgenommen hatte. Anfangs hatte er es auf pure Einbildung geschoben, später auf seine nostalgische Stimmung am Balkon; als das Gefühl aber immer noch nicht verschwand, begann er sich Sorgen zu machen. So war er sofort in höchster Alarmbereitschaft, als er die magische Resonanz spürte. Laut dröhnte sie in seinen Ohren. Die Barriere zu Argyrions Kammer war geöffnet worden. Der Engel sprang auf das Balkongeländer. Schwarze Schwingen breiteten sich aus, als er sich in die Tiefe stürzte. Mit einem lauten Krachen schlug der Heilige Ritter auf dem Burgplatz auf und hastete an seinen verwirrt und eilig salutierenden Soldaten, die mit großen Augen ihren kometengleich vom Himmel gefallenen Herrn anstarrten, vorbei durch das Festungstor. Seine Füße fanden den Weg durch das unterirdische Kellerlabyrinth wie von selbst. Schon war er im alten Tempelweg angekommen, die Vorhalle breitete sich vor ihm aus. Die Torflügel flogen auf, die dunkle Halle lag vor ihm. Die Gefängnistüren am anderen Ende standen weit offen, helles weißes Licht strahlte aus der Zelle in die Düsternis des Tempels. In der Helligkeit hinter ihnen erschienen die beiden Gestalten, die dort vor den Türen standen, wie zwei Schatten. Abrupt blieb der Heilige Ritter stehen. Er keuchte leicht, seine Hand zitterte. Er war... überrascht worden. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sein Schwert gezogen hatte, aber jetzt als es aus seiner Hand fiel, hallte das klirrende Geräusch des Auftreffens in der ganzen Halle wieder. Die beiden Gestalten drehten sich zu ihm um. „Siras...", flüsterte eine der beiden. Der Engel trat leicht näher, sodass sein Gesicht sichtbar wurde. Die silbernen Augen blickten den Tyrannen prüfend an. Doch dieser hatte seine Selbstbeherrschung verloren, denn vor ihnen stand nicht der Heilige Ritter, sondern Siras. Seine schwarze unnahbare Maske lag in seinem Turmzimmer, ebenso wenig schmückte sein schattenhafter Umhang seine Schultern. Seine Rüstung trug er nicht am Körper, nur ein leichtes dunkles Stoffgewand. Die goldenen, von dunklen Ringen umgebenen Augen huschten irritiert durch den Raum. Der Herrscher fühlte sich unwohl. Er war sich seines Vorteils nicht sicher. Das war neu für ihn. Sein Gesicht wurde noch blasser, als es ohnehin schon war. Langsam verzogen sich seine Lippen zu einem seltsam verzerrten Lächeln: „Argyrion... du bist frei." Der silberäugige Engel sah ihn mit einem traurigen Ausdruck an: „Siras..." Der Heilige Ritter schüttelte den Kopf: „Genug! Siras ist tot, ich bin der Heilige Ritter, der Herrscher und Richter dieser Welt. Ich bin das Verderben, nicht mehr und nicht weniger, wag es nicht mich mit diesem beleidigenden Namen anzusprechen. Niemals wieder!" Er biss sich auf die Unterlippe. Die zweite Gestalt trat vor. Vor seinen Augen stand ein schmächtiger Junge, der wohl nicht einmal die zwanzig Winter vollendet haben mochte. Dennoch, in seinen blauen Augen glomm ein seltsam verbittertes, aber entschlossenes Feuer. In seiner Hand lag ein sonderbarer Kompass. Das ganze Instrument vibrierte nur so vor Engelsmagie. Auf seiner Oberfläche glommen die Symbole der elf anderen Engel, einzig das Symbol der Hoffnung fehlte. Mit Misstrauen, fast sogar Abneigung sah er zwischen Siras und Argyrion hin und her. „Das ist er also...", murmelte er, „er sieht krank aus." Verwirrt sah Siras zum Engel der Zeit: „Wer ist er...?" Der Engel hob den Blick: „Das ist die Person, auf die wir vier Jahrhunderte gewartet haben. Das ist der Retter der Welt, der die Engelsjuwelen zurückholte, der hierher kam, um mich zu befreien und dich zu vernichten. Dies ist Iroas, der Held." Der Junge fasste sich an den Kopf, als er den Namen hörte. Es schien, als würde er etwas wahrnehmen, das nur er spüren konnte. „Aber wie? Ich hätte es wissen müssen... Ich hätte vorbereitet sein sollen. Ich kontrolliere diese Welt. Ich weiß alles. Wie konntet ihr... Ich kann nicht verlieren!" Fast mitleidig betrachtete der Engel der Zeit seinen Bruder. „Das kannst du auch nicht. Doch im Gegensatz zu dir bin ich ein geduldiger Verlierer und lerne aus meinen Fehlern. Wir haben diesen Kampf bereits einmal gekämpft." Der Junge keuchte auf und hielt sich eine Hand vor den Mund, als wäre ihm übel. „Der Engel der Zeit... er ist das Kind der Zeit", flüsterte Siras leise. „Nach all den Jahren in der Zelle warst du noch dazu im Stande?" – „Ich habe lange auf diesen Tag gewartet", antwortete der Silberäugige. Siras blickte wieder zu dem Jungen, der die vereinte Engelsmacht in den Händen hielt, dem Jungen, der das Schicksal der Welt besiegeln sollte. Was für eine grausame Bestimmung. Ihre Blicke trafen sich. Der Held und der Herrscher. Es war Zeit für das Ende. „Dass du all diese Bürden auf dich nehmen musstest, um diese verkommene Welt zu retten, tut mir leid, doch ich fürchte, ich kann das nicht zulassen, Junge." Entschlossen trat der Junge vor. „Tu es! Rette die Welt! Es ist deine Bestimmung, Iroas!", rief Argyrion. Verbittert drehte er sich noch einmal zu seinem Erwähler um: „Mein Name ist Kol Kentos." Dann ließ er den überraschten Engel stehen und ging auf Siras zu: „Für das, was du dieser Welt angetan hast, was du den Menschen angetan hast und für alles, was du mir vielleicht schon einmal angetan hast... werde ich dich nun zur Rechenschaft ziehen, Engel der Hoffnung. Ich habe nichts mehr zu verlieren, du schon. Macht mich das stark? Macht dich das schwach? Wir werden sehen." 

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