Verlasse das Fest, wenn es dir am besten gefällt.
-Spruch aus Italien
1. Ein hoffnungsvoller Morgen brach an. Valeé van Veißten saß lächelnd neben ihren schlafenden Freunden und betrachtete die aufgehende Sonne. Was für ein schöner Anblick, sie würde ihn vermissen. Wohin auch immer ihre Reise führen würde, sie würde das hier vermissen. Die schönsten Tage ihres Lebens. Wenn sie alles rückblickend betrachtete, dann war sie froh, dass es so gekommen war. Ihre roten Haare wehten leicht im Wind, als eine kleine Träne den Weg aus ihren violetten Augen fand. Mit einem leisen Auflachen wischte sie sich über die Augen. Also wirklich, jetzt noch sentimental werden auf der Zielgeraden? Eine Person kniete sich neben sie. Leicht drehte das Mädchen den Kopf. Der alte Mann sah sie aus seinen unergründlichen grünen Augen an. Sein Haar stand weniger wirr als sonst, auch seine Haltung war gefasster. Er hielt ihr seine Hand hin: „Komm. Eine Sache gibt es noch zu tun." Sie legte den Kopf schief, dann nickte sie und ergriff seine Hand. Er legte ihren Arm um seinen Hals und stützte sie mit der anderen Hand an der Hüfte. Dankbar nickte sie ihm zu. Er wusste es, aber er verstand. Dafür war sie ihm dankbar. Irgendwie vertraute sie ihm. Es schien, als gewänne er einen Teil seines alten Selbst wieder, seit sie die Kugel zurückgebracht hatten. Als sie daran dachte, bemerkte sie erst, was er in der Hand hielt. Das Licht des Leuchtturms war erloschen, das goldene Juwel lag in seiner Handfläche. Er nickte in Richtung Wald und sie stimmte bedächtig zu. Sie setzten sich in Bewegung. Für sein sicher schon recht fortgeschrittenes Alter war er erstaunlich kräftig. Sie warf einen Blick zurück auf ihre Gefährten. Noch schliefen sie friedlich. Ein Gefühl der Wärme ergriff ihr Herz. In den letzten Tagen waren sie für sie wirklich wie eine kleine Familie geworden. Sie nahmen den Weg durch den Wald Richtung Dorf. Wegen Valeés Verfassung kamen sie nur langsam voran, doch das schien ihn nicht zu stören. Im Gegenteil, immer wieder blieb er stehen, wenn sie husten musste und stützte sie dabei. Die Sonne war vollends aufgegangen, als die zwei die Dorfruinen hinter sich ließen. Sie kamen jetzt tiefer in einen Teil der Insel, an dem Valeé noch nicht gewesen war. Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren, als sie auf eine Waldlichtung traten und ihr Führer stehen blieb. Keuchend lehnte sie sich an ihn und blickte sich um. Sonnenlicht schien durch die Blätter und malte verspielte fröhliche Muster in das Gras, aus dem kleine bunte Blumen hervorlugten. Vor ihr erhob sich eine Felswand. Zweige verdeckten den Eingang einer kleinen Höhle im Gestein. Mit letzter Kraft schleppte sie sich ins Dunkel, wo er sie absetzte und sich neben ihr an die Wand lehnte. Geröll und Steinschutt lagen im hinteren Teil der Höhle, in dem ein Seitengang eingestürzt war. In der Mitte vor ihnen stand eine geöffnete Truhe. Sie war leer. Der Alte zog das Juwel wieder hervor und legte es in ihren Schoß. Eine Weile herrschte Stille, während sie den Stein in ihren Händen drehte. Wieder spürte sie das Gefühl der Hoffnung durch ihren Körper fließen. „Hier ist mein Sohn gestorben." Überrascht hob sie den Kopf. Der Alte starrte immer noch geradeaus an die Wand. „Der Mann, der dich entführte hat ihn umgebracht, so wie mein ganzes Dorf. Salazar Even. Du hast ihn getötet." Nüchtern warf er ihr einen Blick zu. „Dieser Stein brachte ihn hierher aus einer fernen Zeit. Wir müssen den Stein zurücklegen, wo er hingehört, damit er ihn finden wird." Valeé öffnete den Mund: „Aber wenn dieser Mann all die schlimmen Dinge getan hat, warum bringen wir den Stein dann zurück, sodass er ihn finden wird. Warum verhindern wir nicht, dass er jemals hierher kommt?" Der Alte lächelte. „Weil es der Wille des Juwels ist, dass er hierher kommt, genauso wie es sein Wille war, dass du es tust. Mir steht es nicht zu, diese Bestimmung zu verändern. Du könntest es, doch bedenke, dass auch du nie hier gewesen sein wirst, wenn du den Stein mitnimmst! Wenn du die Zukunft veränderst, veränderst du auch die Vergangenheit." Einige Zeit starrte das Mädchen sprachlos den Stein an. Sie würde all das hier nicht erleben? Das wollte sie nicht! Doch war es selbstsüchtig von ihr? „Das ist unfair", flüsterte sie. Der Alte lächelte leicht: „Das, meine Liebe, heißt es zu leben. Tu das, was du für richtig hältst. Das Leben ist unfair, als diejenige, die ihren frühen Tod akzeptiert hat, müsstest du es am besten wissen." Valeé nickte leicht. Er bückte sich und hob einen dunklen Gegenstand auf, der ihr bis jetzt noch gar nicht aufgefallen war. Ein schwarzes Schwert. „Das Schwert eines Helden", murmelte er, „jammerschade, dass es so lange auf einen warten muss und das obwohl wir bereits wissen, dass er es zurücklassen wird." Er legte es neben die Truhe. Sie hatte sich entschieden. Mit einem entschlossenen Stöhnen hievte sie sich auf. Mit einem wehmütigen Blick sah er ihr zu. Mit wackeligen Schritten taumelte sie auf die Truhe zu und sank auf die Knie. Dann, mit zitternden Händen, legte sie das Juwel der Hoffnung in die Truhe zurück und schloss den Deckel. Dort sollte es für die nächsten vierhundert Jahre bleiben, bis ein gestrandeter Mann, der sein Gedächtnis verloren hatte, es in dieser Höhle finden würde. Entschuldigend lächelte sie dem Alten zu: „Verzeih mir." Doch er schüttelte den Kopf: „Mach dir keine Vorwürfe. Alles kommt, wie es kommen sollte. Du hast bereits genug für mich getan. Es ist an der Zeit aufzubrechen. Deine Fähre wartet." Sie hob den Kopf und spitzte die Ohren. In der Ferne hallten Rufe durch den Wald. „Geh", meinte er ermutigend. „Was ist mit dir? Komm mit uns!" Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Das kann ich nicht. Die Aufgabe eines Hüters ist es zu bewachen. Dies ist mein Schicksal, mein Kind. Auf dem Weg, den du beschreiten wirst, kann ich dir noch nicht folgen." Valeé nickte traurig, dann drehte sie sich um. Doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. „Valeé?!" Sie hustete. „Nur immer weiter", hörte sie seine Stimme in ihrem Rücken, „noch ist eure Reise nicht vorbei. Immerzu voran, bis zuletzt!" Sie biss die Zähne zusammen und zog sich mit den Armen nach vorne über den Höhlenboden. „Valeé!" So kroch sie dem Tageslicht entgegen. „Valeé!" Mehrere Personen brachen aus dem Unterholz hervor. Mit Freude erkannte sie die Gesichter ihrer Gefährten. „Valeé, da bist du ja. Wir haben uns Sorgen gemacht!" Julians Blick fiel auf den Alten. Er runzelte die Stirn: „Du... was hast du..." – „Halt", flüsterte sie, „er ist unser Freund, Julian. Er hat getan, was er tun musste." Grimmig zuckte der Heiler die Schultern, dann half er Valeé auf, doch sie konnte nicht mehr stehen. Sanft hob er sie hoch und schloss sie in seine Arme. „Am Strand ist ein Schiff aufgetaucht. Gehen wir..." Er wollte sich umdrehen, doch Valeé rief laut zurück in die Höhle: „Wenn sich unsere Wege hier trennen, kann ich dann wenigstens deinen Namen erfahren?" Der alte Mann lächelte nachsichtig: „Früher nannte man mich Margon Hen, den Zauberer. Leb wohl Valeé van Veißten." Sie sah sich nach dem seltsamen Mann um, als Julian sich in Bewegung setzte, solange bis die Bäume ihn und die geheimnisvolle Lichtung verschluckten.
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Die Schicksalsinsel
FantasyManchmal ist das Schicksal eine widerwärtige Kreatur. Sei es das junge Mädchen, das seiner tödlichen Krankheit erliegt, im Herzen voller Verbitterung, sei es der Soldat, der auf der Suche nach Größe seiner Machtgier erliegt und letztendlich, in Geda...