Du entgehst nicht dem Verhängnis! Diesen Glauben hast du, merke,
nicht daß er dich in Bedrängnis mutlos mache, sondern stärke.
– Friedrich Rückert1. Die Möwen kreischen. Es ist so heiß. Die Wellen, sie rauschen. Moment, heiß? Wieso ist es so heiß? Ah, eine leichte Brise. Wie angenehm. Was ist dieses Gefühl? Es beginnt an meinen Zehen. Kühl. Immer weiter. Es umfängt mich. Der warme Sand und das kühle Wasser. Die Brandung. Bin ich am Meer? Was werde ich sehen, wenn ich meine Augen öffne? Mmh, das ist es, verstehe. Strahlender Sonnenschein. Der Mann blinzelte in das warme Sonnenlicht. Er lag an einem weißen Sandstrand. Die Wellen brachen sich um seinen Körper. Möwen zogen ihre Kreise am Himmel, der Horizont: ein tiefes Blau. Bedächtig stand er auf und blickte sich lächelnd um. Sand rieselte aus seinem schulterlangen braunen Haar. Seine hellbraunen Augen suchten neugierig den Strand ab, dann blickten sie an sich herunter und bemerkten, dass er nichts am Leib hatte. Der Mann war völlig nackt, einzig ein rotes gezacktes Mal auf seiner Brust hob sich vom restlichen Körper ab. Verwirrt strich er über die Stelle, doch die seltsam wund aussehende Haut fühlte sich vollkommen glatt und normal an. Schließlich zuckte er mit den Schultern und begann, den seltsamen Ort, an dem er erwacht war zu erkunden. Aufmerksam schritt er den Strand entlang. Es kümmerte ihn nicht, dass er nackt war, immerhin schien er ohnehin die einzige Menschenseele weit und breit zu sein. Er wusste nicht, wie lange er schon so gegangen war, als in der Ferne auf einmal ein kleiner brauner Punkt auf dem Wasser auftauchte. Je näher er mit schnellen Schritten kam, desto größer wurde der Punkt, bis er die weißen Segel eines kleinen hölzernen Fährkahnes ausmachen konnte. Einen Moment zögerte er sich dem Boot zu nähern, da er sich für seine Nacktheit schämte, doch dann siegte die Neugier und so schritt er auf den Kahn zu, der einsam an seiner Anlegestelle im Wasser dümpelte. Auf dem Steg saß eine Gestalt. Sie war in einen langen dunklen Mantel gekleidet, dessen Kapuze ihren Kopf bedeckte. Der Mann kam langsam näher, als sie plötzlich ihren Kopf hob und er ihr Gesicht erkennen konnte. Ein altes bärtiges wettergegerbtes Seemannsgesicht blickte ihm freundlich entgegen und winkte ihn einladend näher. Der Mann trat auf den Steg und blieb unschlüssig hinter der Gestalt stehen, die immer noch am Steg saß und die Beine ins Wasser baumeln ließ. „Verzeiht meinen unangemessenen Aufzug...", setzte er an. Die Gestalt hob die Hand und winkte ab, dann klopfte sie auf das Holz neben sich. Der Mann ließ sich nieder: „Seid Ihr der Kapitän dieses Schiffes?" Die Gestalt nickte: „In der Tat, der bin ich. Aber spar dir die hohe Anrede für später auf. An diesem Ort sind Dinge, wie Ränge und Titel ohnehin nichtig." Der Mann schien eine Weile mit sich zu ringen, welche der Fragen, die ihm auf der Zunge brannten er als erstes stellen sollte, dann erhob er wieder das Wort: „Ich – ich weiß nicht, wie ich und warum ich... Ich meine wer ich..." Der Kapitän lachte leise auf: „Lass gut sein, Kleiner. Das dachte ich mir bereits. Ich bring dich hier weg. Sollen wir losfahren?" Verwirrt hob der Mann den Kopf: „Losfahren? Wohin? Bringst du mich fort von hier?" Der Kapitän nickte und fuhr sich durch den weißen Bart: „Gewiss. Ich bin Fährmann, das ist mein Beruf." Der Mann zögerte immer noch: „Aber ich habe nichts, um dich zu bezahlen. Ich habe ja nicht einmal Kleider am Leib." Der Alte rappelte sich ächzend auf und zuckte mit den Schultern: „Sei's drum. Weil du es bist, lass ich dich kostenlos mitfahren. Von Seemann zu Seemann, ich hatte sowieso viel zu lange keine Kundschaft mehr." Er hielt dem Mann die Hand hin. „Vielen Dank, das ist wirklich großzügig." Der Mann ergriff sie und ließ sich auf die Füße ziehen. „Wenn man seine ganzen Tage auf einer einsamen Insel verbringt, dann freut man sich über jede Abwechslung, die man kriegen kann, Junge. Und vor allem realisiert man, wie nichtig die Dinge sind, die im Leben eine wichtige Rolle spielen. Was ist schon Geld, hmm?", brummte der Alte. Dann streifte der Kapitän seinen Mantel ab und hielt ihn dem Mann hin: „Hier, den wirst du brauchen. Auf dem Wasser ist der Fahrtwind beizeiten doch recht kalt und der Ort, wo wir hinfahren ist sicher auch kein tropisches Paradies." Der Mann ergriff dankbar den Mantel und schlang ihn um seine baren Schultern. Wenigstens hatte er jetzt ein Kleidungsstück am Körper. Auch wenn es den alten Kapitän nicht zu stören, gar zu verwundern schien, so wollte er anderen Menschen wirklich nicht nackt gegenübertreten. Knöchelknackend folgte er dem Alten auf den Kahn und setzte sich, während dieser die Leinen losmachte. „Bereit, Junge? Wir legen jetzt ab!" Langsam nahm das Boot an Fahrt auf und eine frische Meeresbrise wehte durch seine Haare. Immer wieder durchschnitt das lange Ruder des Fährmanns das Wasser, dann blähten sich die Segel im Fahrtwind und das Schiff segelte los. Während sie fuhren, begutachtete der Mann das seltsame dunkelrote Mal auf seiner Brust. „Verwundert?" Er blickte auf. Der Kapitän hatte sich ihm gegenüber niedergelassen. „Mmh. Es ist sonderbar. Ich weiß nicht woher es kommt und wie es überhaupt entstanden sein könnte, wie so etwas generell entstehen kann. Es beunruhigt mich." Der alte Mann brummte vergnügt: „Lass gut sein, Junge. Es ist keine Krankheit oder gefährlich und hier kann es dir sowieso nichts tun. Einen wie dich hatte ich lange nicht mehr, aber gesehen habe ich das schon mehr als genug. Es ist nur ein Hinweis. Eine schönere Lösung, als die Wahrheit zu zeigen, würde ich sagen. Seitdem hab ich mich mit den Leuten viel besser unterhalten. Aber vergiss es einfach. Sieh es als Muttermal oder ansehnliche Narbe, wie du willst." Er klopfte dem Mann freundschaftlich auf die Schultern, dann zündete er sich eine Pfeife an und blickte sinnend auf das Wasser. Der Mann tat es ihm gleich und beobachtete den aufsteigenden Rauch in der Mittagssonne. Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs gewesen, wie lange genau schien ihm schwer zu sagen, da wurde der Wind auf einmal kälter und der Himmel düsterer. Fröstelnd zog er seinen Mantel enger um sich und sah in Erwartung eines Unwetters aufs Meer, doch seltsamerweise wurde die Wasseroberfläche, je weiter sie kamen, immer glatter statt immer aufgewühlter. „Wir sind fast da", brummte der Kapitän und erhob sich schwerfällig. Vor ihnen kam graues Festland in Sicht, das langsam näher rückte. Der Mann glaubte einen schwarzen Sandstrand zu erkennen und im Hintergrund große dunkle Berge. Eine dichte Aschewolke lag über der Insel und er meinte einen leicht verbrannten Geruch wahrzunehmen. Ob die Insel vulkanisch war? Sie segelten auf eine Höhle im Wasser zu, aus deren Innerem ein rötlicher Lichtschein drang. Dann war der Himmel über ihnen auch schon verschwunden und eine rotbraune Felsendecke an seinen Platz getreten, von der vereinzelt spitze Stalaktiten hinabragten.
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Die Schicksalsinsel
FantasyManchmal ist das Schicksal eine widerwärtige Kreatur. Sei es das junge Mädchen, das seiner tödlichen Krankheit erliegt, im Herzen voller Verbitterung, sei es der Soldat, der auf der Suche nach Größe seiner Machtgier erliegt und letztendlich, in Geda...