Rasch vergeht die Zeit.
Dahin schwindet das Leben.
Was bleibt, ist ein Grab.
Die Sehnsucht verzehrt.
Im Herzen lodert Liebe.
Der Schmerz währt ewig.
Keinerlei Gnade.
Das eigene Wohl nur zählt.
Grausam ist der Mensch.
Hass erfüllt das Herz.
Hass treibt an die Lebenskraft.
Hass wird erwidert.
Nur Verrat regiert.
Die Lüge beherrscht alles.
Jeder ist allein.
Wer vertraut, verliert.
Wer ander'n glaubt, ist ein Narr.
Wer hilft, wird bestraft.
-Scifius
1. Salazar Even schritt durch die düstere Schlucht seinem Schicksal entgegen. Seine Hände umklammerten das goldene Juwel der Hoffnung, das ihn bis hierher gebracht hatte. Ein weiteres Mal würde er von ihm Gebrauch machen. Das Licht der anderen Seite kam näher. Er atmete tief durch, dachte an ein tiefes Nichts, das ihn verschluckte, immer tiefer, bis er ganz verschwunden war. Ein Kribbeln breitete sich auf seiner Haut aus, als der Stein auf ihn reagierte. Er schlug seine Augen auf und sah gerade noch wie seine Hände verschwanden. Er war fort, unsichtbar für die Augen eines Beobachters. Er lächelte leise, steckte das Juwel weg und schlich vorsichtig aus der Deckung der Schlucht ins Freie. Vor ihm erstreckte sich ein langer Strand. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht und malte geheimnisvolle Muster auf das Holz der sieben großen Schiffe, die hier vor Anker lagen. Er hielt die Luft an. Der ganze Strand war bevölkert von hektisch umherlaufenden Männern. Einige luden Fässer und Munition auf die Schiffe, andere teilten Waffen aus, wieder andere saßen einfach im Schatten der Felswand, tranken und spielten Karten. Salazar schätzte mindestens dreihundert Mann. Darauf bedacht kein Geräusch zu machen, schlängelte er sich an der Felswand entlang, zwischen Piraten, Fässern und Kochstellen hindurch, bis die Wand schließlich einen Knick machte und in eine große, in einer Höhle gelegene Bucht mündete, in die das Wasser tief genug hineinreichte, dass ein großer prächtiger Schoner darin Platz hatte. Offensichtlich das Leitschiff der Flotte. Salazar schluckte, als er die Kapazität der Piratencrew rekalkulierte. An einem schmalen Felsvorsprung, darauf bedacht, nicht ins Wasser zu fallen, presste er sich an der feuchten Höhlenwand entlang, bis er sich auf einen Steg fallen lassen konnte. Die Höhle vor ihm war durchzogen mit Holzstegen, Brücken und Hütten. Auch an diesem Hafen wurde fleißig gearbeitet. Die Piraten schienen einen baldigen Angriff vorzubereiten, wie befürchtet. Er wich einem fluchenden und offenbar leicht angetrunkenen Piraten aus, der mit einem Fass auf ihn zutorkelte, lief um einen Verladekran und an einer Taverne vorbei, in der, den Geräuschen nach zu urteilen, gerade mehrere Krüge zerbrochen waren. Über ihm spannte sich eine Brücke, die in ein Waffenlager zu führen schien. Der Weg vor ihm stieg leicht an, führte wieder ins Freie in eine Art kleine Schlucht, die wiederrum in einer weiteren Höhle mündete. Vermutlich war an diesem Abschnitt mal die Höhlendecke eingestürzt. Der Ort, den er betreten hatte war offenbar ein riesiges Höhlensystem. Er blickte kurz zurück nach draußen auf den Hafen, dann schlich er tiefer in die Dunkelheit. Die von dämmrigem Fackellicht erleuchteten Gänge führten immer tiefer ins Erdinnere. Immer seltener begegneten ihm vereinzelte Piraten. Immer wieder öffneten sich rechts und links des Weges Türen oder Eingänge, die in Waffenkammern, Lagerräume oder Unterkünfte zu führen schienen. Je tiefer er kam, desto mehr wurden die seltsamen blau leuchtenden Kristalle in den Felswänden. Doch Salazar hatte keine Zeit zum Staunen. Als der Gang immer weiter nach unten zu führen schien, bog er um die Ecke in einen Torbogen ein, der von zwei Fackeln erhellt wurde. Vor ihm erstreckte sich eine riesige Höhle mit einem gigantischen unterirdischen See. Auf der gegenüberliegenden Seeseite konnte er in der Dunkelheit Gitterstäbe im Fels ausmachen. Gefängniszellen am anderen Ende eines Sees, wahrlich nicht unklug. Das einzige, was ihn verwunderte war, dass nirgendswo ein Boot zu ankern schien. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er in diesem Teil des Verstecks falsch war, also machte er sich auf den Rückweg durch Gänge, die weiter nach oben führten. Allmählich traf er wieder auf umhereilende Piraten und laute Geräusche drangen an sein Ohr. Sein Seitenweg mündete in einen breiten, gepflasterten und von Öllampen beleuchteten Gang, der gerade mitten auf zwei große Türflügel zulief. Salazar folgte ihm und gelangte in eine große Felshalle, deren Decke von hölzernen Pfeilern gestützt wurde. Über sich konnte er das Dachgebälk erkennen, von dem an langen Eisenketten mehrere Kronleuchter herabhingen. Mehrere lange Banketttische waren längs in der Halle aufgestellt, an denen circa fünfzig Piraten ausgelassen feierten. Doch das, was Salazars Aufmerksamkeit bannte, war der goldene Thron am Ende der Halle, auf dem ein breitschultriger Mann mit tiefrotem Vollbart saß und hämisch lachend einen Krug nach einer Bediensteten warf. Ein weiteres Mädchen saß mit gequälter Miene auf seinem Schoß und fütterte ihn mit Weintrauben. An seinem Thron lehnte ein beeindruckend verzierter Säbel. Plötzlich schubste er das Mädchen von seinem Schoß, das mit einem schmerzhaften Aufschrei die Stufen zum Boden hinunterfiel. Mit Tränen in den Augen kroch es davon. Die Piraten lachten. Der Kapitän stand auf und breitete feierlich die Arme aus: „Meine Freunde! Feiert ausgelassen, aber genießt den Suff noch nicht im Überfluss, denn heute wird der große Tag sein, an dem wir, an dem ich, der große Kapitän Ducard, die Hunde von Kentos vertreibe und ihre Stadt niederbrenne. Ja, heute wird geplündert, gebrandschatzt und gemordet, bis die Insel uns gehört. Welche Garnison soll uns noch aufhalten, Freunde!" Die Menge tobte und jubelte. Mit offenem Mund stand Salazar zwischen den schreienden Piraten, ein ehrfürchtiges Kribbeln durchlief seinen Körper. Plötzlich wurde es still in der Halle. Verwirrt sah er sich um, bis er bemerkte, dass die überraschten Blicke der Piraten auf die Stelle gerichtet waren, an der er stand. Er blickte hinab auf seine Hände und fluchte leise. Er war wieder sichtbar. Die Piraten umzingelten ihn. „Wer ist das denn?!" – „Ein Eindringling!" – „Haltet ihn fest!" – „RUHE!" Die Piraten erstarrten, als ihr Kapitän die Stimme erhob. Der Mann packte seinen Säbel und kam langsam die Stufen hinab. „Wie mir scheint haben wir einen kleinen Spion unter uns, Männer", knurrte er. Er lächelte genugtuend: „Was haltet ihr davon, wenn wir ihn... umbringen!" Die Männer johlten. Salazars Hand fuhr zum Griff von Schattenklinge. Es gab keinen Ausweg, die Piraten hatten ihn völlig eingekreist. Blieb also nur die Flucht nach vorne. „Duell!", rief er laut. Die Piraten und ihr Kapitän erstarrten: „Duell?", zischte er leise. „Ganz genau", entgegnete Salazar, „hiermit fordere ich euren Kapitän Ducard zum fairen Zweikampf auf. Wenn ich euren Kodex richtig verstanden habe, dann muss ein Piratenkapitän einer Aufforderung zum Duell um die Führung nachkommen. Es sei denn natürlich", er legte eine kleine Kunstpause ein und setzte alles auf eine Karte, „er möchte den Respekt seiner Mannschaft verlieren. Das wäre... Meuterei." Kapitän Ducards Gesicht nahm einen ungesunden Zornesrotton an. In der Halle herrschte Totenstille. Salazar meinte leichte Panik im Gesicht des Kapitäns zu sehen, als er sich nach seinen Männern umsah. Diese waren auseinandergerückt und hatten einen runden Kampfplatz freigemacht. „Duell, Duell, Duell, Duell...", skandierten sie beschwörend und stießen ihre Schwerter in den Boden. Salazar lächelte: „Hiermit fordere ich, Salazar Even, der mächtigste Krieger der Garnison von Kentos euch Kapitän Ducard zum Duell um die Führung heraus. Zeigt ihr den Mut gegen mich anzutreten?!" Ducard knurrte und zog seinen Säbel: „So sei es!" Ohne jede Vorwarnung stieß er zu. Überrascht hechtete Salazar zur Seite. Eine unfaire Attacke. Er hatte nicht einmal seine Klinge gezogen. „Feigling!", rief er, „Kennt ihr die Duellregeln nicht?" Spöttisch deutete der Kapitän eine Verbeugung an: „Ich kenne euren Tod!" Salazar zog seine Schattenklinge, das schwarze Metall durchschnitt die Luft. „Wie ihr wollt!" Klinge traf auf Klinge als die beiden Männer ihr Duell um den Tod ausfochten. Der Kapitän war ein Mann, der auf Kraft setzte. Jeder seiner Hiebe war brutal. Salazar spürte seine Arme fast brechen. Doch er war schneller und technisch überlegener und das konnte er nutzen. Er wich aus und wollte von der Seite zustechen, doch er hatte nicht mit der Rücksichtslosigkeit seines Gegners gerechnet. Sein Fuß traf ihn schonungslos in den Magen, er würgte, schnappte nach Luft und taumelte zurück. Der Säbel zischte nur knapp an seinem linken Ohr vorbei. Haarsträhnen fielen zu Boden, er wich zurück und stieß gegen die johlenden Piraten. Kräftige Hände schubsten ihn lachend zurück in den Kreis. Ducard grinste überlegen, als er wieder auf ihn losging. Salazar rollte sich zur Seite und hieb von unten nach seinen Beinen. Sofort setzte er dem überraschten Piraten nach, der immer weiter zurückwich. Jetzt stand Ducard auf einmal mit dem Rücken zur Wand und wurde erbarmungslos von seinen Männern in den Kreis gestoßen. Salazar war bereits vor ihm. Sein Schwert traf auf den Säbel, sein grimmiger Blick den leicht panischen des Kapitäns. „Hast du Angst vor dem Tod?", flüsterte Salazar. Der Kapitän drückte wütender gegen seine Klinge. „Ich nämlich nicht. Ich kam hier in dem Bewusstsein zu sterben und das macht mich frei!" Er gab dem festen Druck nach und trat ein wenig zur Seite, als der überrumpelte Pirat plötzlich nach vorne stolperte. Das schwarze Schwert zischte durch die Luft. Der Säbel fiel zu Boden. Ungläubig starrte Ducard auf seine abgetrennte Hand, dann hob er langsam in Panik seinen Blick. Ein Schwert zeigte auf sein Kinn. Er hatte verloren. Mit einem letzten Funken Hoffnung drehte sich der besiegte Kapitän zu seinen Männern um, doch vergeblich. Ein erbarmungsloses Mantra hallte durch den Raum: „Töten, töten, töten, töten...!" Unschlüssig sah sich Salazar um. Das durfte er nicht tun. Seine Ehre verbot es ihm. Töten, töten, töten, töten. Sein Gegner war bereits besiegt. Doch hätte er Gnade walten lassen? Der Mann, der eine ganze Insel abschlachten wollte? Töten! Töten! Töten! Töten! Nein, dieser Mann hatte keine Gnade verdient! Dieser Mann musste sterben! Es war gerecht! TÖTEN! TÖTEN! TÖTEN! TÖTEN! Salazar Evens Klinge schnitt durch die Luft. Ein rotbärtiger Kopf schlug dumpf auf dem Boden auf. Mit einem letzten Röcheln kippte der gefällte Körper nach hinten. Salazar steckte sein Schwert weg und blickte sich um. Die Piraten stampften mit den Füßen und schlugen ihre Säbel aneinander: „Käpt'n! Käpt'n! Käpt'n! Käpt'n!" Salazar starrte auf seine zitternden Hände. Er war König der Piraten? Er war Herrscher? Was hatte ihm Kentos noch zu bieten? Eine Frau, die ihn liebte! Eine Frau, die er nie geliebt hatte? Eine Heimat! Ein Leben, dessen Routine ihn langweilte? Freunde! Einen Ort voller falscher Menschen wie Merrigon? Er knurrte, als die zwei Stimmen in seinem Kopf kämpften. Er wollte zurück in seine Zeit! Wollte er denn überhaupt noch nach Hause? Er musste seine Erinnerungen wiedererlangen! Wo war sein Zuhause, in einer Zeit an die er sich nicht mehr erinnern konnte, oder etwa...? Auf Kentos! Hier! In der Garnison! Hier! Als ehrbarer Soldat und Vater! HIER, als König der Piraten! NEIN! Tu das nicht! Er war jetzt König der Piraten! Ein dunkler Schatten legte sich über seine Augen, als die Stimme der Macht und Gier die Stimme der Vernunft vernichtete. Der König der Piraten hob den Säbel des Kapitäns vom Boden auf und stieß ihn in die Luft. Die Piraten jubelten! „Ab heute bin ich, Kapitän Salazar Even, König der Piraten, euer Herr! Macht eure Waffen bereit, denn heute Abend werden wir ausziehen, uns zu holen, was uns zusteht! Im Morgengrauen wird Kentos brennen!"
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Die Schicksalsinsel
FantasíaManchmal ist das Schicksal eine widerwärtige Kreatur. Sei es das junge Mädchen, das seiner tödlichen Krankheit erliegt, im Herzen voller Verbitterung, sei es der Soldat, der auf der Suche nach Größe seiner Machtgier erliegt und letztendlich, in Geda...