Kapitel 35 - Ich (bin tot)

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Zum 18. für Kati

Wenn dies mein Leben war, so bin ich froh zu sterben.

Leben ist Leiden, im Tod bin ich frei.

Ich, gezwungen zum Helden,

gestorben als Mensch.

Die Totenmusik - Flöten und Geigen,

der meinen, mir zu gedenken.

Tot ist nur, wer vergessen wird.

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1. Ein ferner Hauch von Musik. Geigen? Sind das Geigen? Ich glaube, es sind Geigen. Ja, Geigen und Flöten. Klirr. Splitterndes Glas? Krach. Ein Humpen, der auf einen Tisch geschlagen wird. Wie seltsam. Wenn das ein Traum ist, warum fühlt es sich dann an, als läge ich auf einer rauen Holzplatte? Warum höre ich lautes Männerlachen? Und Geigen, Geigen und Flöten und immer wieder Musik. Quietschende Tür. Müsste dringend geölt werden. Wie unsere zuhause... Zuhause? Wo ist das? Seltsamer Gedanke. Quietschende Tür, polternde Schritte und immer wieder Musik. Geigen; Geigen und Flöten. Wenn ich träume, warum träume ich dann so wirr? Was träume ich von Tavernen? War ich nicht letztens erst noch dort? Ja, ich; ich und meine Freunde und Geigen. Geigen und Flöten. Nein, das ist kein Traum. Aber wenn das kein Traum ist, bin ich dann... „...wach!" Verwirrt schreckte ich hoch und blickte verständnislos um mich. So viele Eindrücke stürmten auf mein überfordertes Gehirn und meinen Sehnerv ein, dass ich nur ein indifferentes „Hmm?" zustande brachte. „Du bist wach!", wiederholte die Stimme an meinem Ohr. Erschrocken drehte ich den Kopf und bemerkte erst jetzt die Gestalt, die vor mir am Tisch saß, vor sich ein großer Humpen mit Bier, und mich freundlich anlächelte. „Gut geschlafen?" Ein wenig - sehr - durcheinander sah ich mich wieder um, bevor mein Blick zu der Gestalt vor mir zurückkehrte. Ich befand mich - unverkennbar - in einem Wirtshaus. Hölzerne schwere Tische verteilten sich in einem schummrigen verrauchten Raum, auf deren Stühlen ein, zugegeben etwas abgerissener, Querschnitt der Gesellschaft zu sitzen schien. Eine Dienstmagd kehrte soeben die Scherben eines zerbrochenen Kruges vor den Füßen eines besoffenen fettleibigen Mannes vom Boden auf. Zwei Musiker, ein Geiger und ein Flötenspieler, warben mit wildem Spiel um die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer. Der Wirt brüllte etwas in die Küche. Krüge schlugen aneinander, Zigarrenrauch, Gelächter, Kartenspiel. Der Mann vor mir, der mich immer noch, genüsslich an seinem Bier nippend, fröhlich begutachtete, trug einen langen dunklen Kapuzenmantel, einen gepflegten grauweißen Bart und hatte sein langes Haar hinter dem Kopf zu einem Zopf gebunden. Seine wachen grünen Augen strahlten eine gewisse Weisheit aus, aber auch Neugier und Berechnung. Er schien auf eine Antwort zu warten. „K-kennen wir uns?", stammelte ich verunsichert. Hatte ich eine Nacht durchzecht und nun eine Gedächtnislücke? Der Mann schien mich besser zu kennen, als mir lieb war. Der zwinkerte mir zu: „Das, mein Lieber, denke ich ist Ansichtssache. Zumindest kennen wir uns jetzt!" Ich nickte leicht irritiert: „Habe ich... habe ich hier ähm geschlafen?" Die Geigenklänge schienen mir hartnäckig ins Ohr zu plärren. „Mehr oder weniger. Jetzt bist du wach. Möchtest du etwas zu trinken bestellen? Ich glaube der Wirt schätzt es nicht, wenn seine Gäste ihm keinen Gewinn einbringen." Ich hatte zwar keinerlei Hunger- oder Durstgefühl, jedoch erschien es mir als höflichste Lösung, mir dennoch etwas zu bestellen, so kramte ich in meinen Taschen nach Kleingeld, fand jedoch keines. Das Einzige, was ich fand, war ein kleines goldenes Amulett, nein ein Kompass voller seltsamer verblasster Symbole, mit denen ich jedoch nichts verbinden konnte. Wie er in meine Taschen gelangt war, war mir ebenso schleierhaft. „ich glaube, es tut mir leid, aber ich habe kein Geld..." Der Mann winkte ab: „Woher auch? Wirt, ein Bier für den jungen Mann! Auf meine Rechnung!" Der griesgrämige Mann am Tresen nickte brummig und kramte ein staubiges Glas unter der Theke hervor. Ich wandte mich mit gerunzelter Stirn wieder meinem Tischnachbarn zu: „Was mache ich in dieser Taverne? Wo sind wir hier?" - „Das ist eine gute Frage! Ich habe dich hier gefunden, also habe ich mich entschlossen, mich zu dir zu setzen. Vielleicht hast du deine Ankunft verschlafen. Die Fährmänner kommen immer in diese Taverne, um ihr verdientes Goldstück wieder auszugeben. Vermutlich hat er dich gleich hier gelassen. Eine sehr interessante Sache, wie ich finde. Ihr einziger Lebenszweck ist es, die Leute in ihrer Fähre überzusetzen. Alles, was sie dafür bekommen, ist eine kleine Goldmünze, die sie dazu nutzen können, ihre Existenz ein wenig lebensähnlicher zu machen. Eine furchtbar faszinierende Verhaltensweise. Sie trinken hier nicht, weil sie es müssten, sie tun es, weil sie es müssen wollen. Ah, dein Bier." Der Wirt stellte den Bierkrug lauthals vor mir ab, was mich zum Zusammenzucken brachte und verzog sich dann wieder mit seinem Goldstück an die Theke. Der Mann prostete mir zu und trank aus seinem Humpen. Ich nippte ein wenig, dann verzog ich den Mund und stellte den Krug wieder ab. „Du hast Recht, vielleicht ist das eine schlechte Idee. Vielleicht brauchst du ein wenig frische Luft?" Ich nickte ein wenig dankbar, die beklemmende Enge des Wirtshauses verlassen zu können und folgte ihm durch die Stube und eine schwere eisenbeschlagene Holztür nach draußen auf eine kopfsteingepflasterte Straße. Leichter Seewind umwehte meine Nase, brachte jedoch auch den unangenehmen typischen Hafengeruch mit sich. In der Ferne hörte ich Hufe und Kutschräder über den Pflasterstein klappern. Der Mann winkte mir und führte mich durch die Gasse um die Ecke auf eine größere Straße, die parallel zum Wasser verlief, sodass ich im Vorbeigehen immer wieder Blicke auf das Hafenbecken, die Stege und die an- und ablegenden Fähren erhaschen konnte. Gedimmte Straßenlaternen erhellten die ganze zwielichtige Szenerie. Ab und zu huschten einige zielstrebige Gestalten an uns vorbei, die uns jedoch kaum zu beachten schienen. Schlimmer waren jedoch die verwirrten Personen, die teilweise apathisch am Straßenrand standen und uns hilfesuchend hinterherblickten, wenn wir sie passierten. Meinen bärtigen Begleiter schienen sie jedoch nicht zu stören. Er winkte mich fröhlich weiter. „Das ist der Hafen", antwortete er auf meine unausgesprochene Frage. „Hier kommen sie alle an. Und hier geht ihre Reise dann weiter. Wenige kommen wieder zurück, wie ich. Als ich dich in der Taverne fand, kam ich soeben zurück von draußen, ein zweites Mal. Es gab etwas zu erledigen. Der größte Zufall war jedoch, dass ich dann auch noch genau dich hier traf. Aber nun werde ich dich mitnehmen, auch wenn ich nicht weiß, wie weit." Wir kamen an einen Torbogen, hinter dem ein dunkler Tunnel ins Gestein führte. Zwei geisterhafte Wachen standen zu beiden Seiten und hoben ihre Speere, als wir beide hindurchtraten. Mein Begleiter schnippte mit dem Fingern und eine kleine Flamme tanzte auf seiner Hand, die uns den abfallenden Weg in den Fels ausleuchtete. „Wir verlassen den Hafen und begeben uns nun in die tieferen Ebenen zur Beurteilung." Das flackernde Licht malte unheimliche Muster über meine Kleidung und als ich an mir hinabblickte, bemerkte ich erstmals den kleinen Riss in meinem Oberteil. Sinnend blieb ich stehen und streifte das Kleidungsstück ab. Der Mann ging noch einige Schritte, dann fiel ihm auf, dass ich nicht mehr hinter ihm war und er drehte sich neugierig um. Als er mich nachdenklich stehen sah, huschte ein erkennender Funke durch seine Augen. Verwirrt flog mein Blick von ihm zu dem fingerbreiten länglichen Loch. Es betraf ausschließlich die Vorderseite, die Rückseite war komplett intakt. Fast tranceartig ließ ich das Oberteil zu Boden fallen. Mein Blick glitt über mein Hemd, das ich darunter trug. Derselbe Riss. Langsam, mechanisch, knöpfte ich das Hemd auf und begutachtete meine nackte Brust. Eine längliche Narbe zog sich über mein Herz. Meine Fingerspitzen fuhren über die hellere Haut. Vollends verheilt. Ich starrte auf meine Hand. Keinerlei Blut. Überfordert schüttelte ich den Kopf: „Was hat das zu bedeuten?" Mein Begleiter fuhr sich durch den Bart und runzelte die Stirn: „Zieh dir doch erstmal wieder deine Kleidung an, dir wird noch kalt." Ich schüttelte leicht den Kopf: „Ich fühle keine Kälte... Ich habe keinen Durst... Ich existiere überhaupt nicht... Ich wurde erstochen..." Der Mann bückte sich und reichte mir mein Oberteil. „Ja und nein. Du existierst. Bist du etwa nicht hier?" - „Ich bin tot..." - „Ja, aber doch bist du hier! Verstehst du nicht? Das, was du zurückgelassen hast, ist nicht alles. Da ist mehr." - „Wer!?" - „Wer...?" - „Wer hat mich getötet?" - „Du weißt es doch schon, nicht wahr? Niemand war es..." - „Ich selber war es." - „Korrekt." Ich lehnte mich erschlagen gegen eine Tunnelwand. „Das ist so viel... das ist zu viel... Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht. Warum fällt es mir so schwer? Da ist etwas, Menschen, die mir etwas bedeuten, vielleicht... Ich hatte es bereits in der Taverne. Erinnerungen und doch nicht..." Der Mann begann, mein Hemd zuzuknöpfen. „Die Toten haben keine Erinnerungen. Komm nun, du weißt, dass du nicht mehr leben wolltest, als gehst du einem besseren Ort entgegen." Abwesend nickte ich, nahm mein Oberteil wieder an mich und streifte es mir über. Zufrieden schnalzte er mit der Zunge. "Na siehst du, nun komm!" Wir gelangten an eine Gabelung, ein Weg führte mit einer Treppe steil in die Tiefe, der andere führte den fackelerleuchteten Tunnel fort, zulaufend auf ein großes schwarzes Doppeltor mit silbernen Ornamenten. In meinem natürlichen Bestreben, tiefer in die unteren Ebenen hinabzusteigen, wollte ich schon die Treppe wählen, doch er hielt mich mit ausgestrecktem Arm auf und raunte: „Nicht dort. Der Ort, an den wir gehen, liegt hinter dieser Tür. Hab keine Angst, zögere nicht, sei ehrlich. Dir kann nichts geschehen, solange du du bist!" Ein wenig verwirrt nickte ich mit dem Kopf, worauf er zufrieden auf die Türen zuging, die vor ihm aufschwangen. Ich folgte ihm.

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