Kapitel 13 - Unschuld

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Eh' ich zur Ruh' mich lege,

Tret ich ans Fenster gern,

Noch einmal das Licht zu grüßen

Vom hohen Leuchtturm fern.

– Der Leuchtturm, Julie von Hausmann

1. „Wie lange wollen wir hier noch rumlaufen? Wir sind hier mitten im Niemandsland. Wieso habt ihr auch bitte unser Schiff gesprengt? Das war eure einzige Fluchtmöglichkeit. Wie dumm kann man denn sein? ..." Seit geschlagenen zwei Stunden marschierten sie jetzt über die überwucherte Insel und das einzige was diese Nervensäge von einem Schiffsjungen zu ihrer Rettung „beigetragen" hatte war Quengeln. Valeé knurrte genervt auf: „Kannst du jetzt vielleicht endlich mal deinen Mund halten? Entweder du verreckst hier mit uns oder wir finden einen Weg hier weg, also in drei Teufels Namen halt deine dämliche Klappe und sei konstruktiv! DU bist hier Zuhause!" Daraufhin war er wenigstens still. Leise flüsterte sie zu Julian, der neben ihr ging: „Ich hätte ihn doch umbringen sollen..." Der Heiler brummte nur resigniert und stapfte weiter, als Maven, der vorausgelaufen war, plötzlich brüllte: „Ich sehe einen Turm! Kommt hier lang!" Die Gefährten sahen sich kurz an, zuckten dann mangels besserer Ideen mit den Schultern und folgten Mavens Stimme. Dieser stand vor einem steinernen, leicht mit Kletterpflanzen bewachsenen Leuchtturm. Alles sah recht gut erhalten und frisch verlassen aus. Die hölzerne Tür war aus den Angeln getreten worden, das Innere der Wohnung verwüstet. Im Erdgeschoss waren sämtliche Schränke aufgerissen worden, Küchengeschirr lag verstreut über dem Steinboden, auf der Arbeitsplatte klebte getrocknetes Blut. Valeé drehte sich um zu Finnis: „Kennst du diesen Ort?" Der Junge nickte: „Selbstverständlich. Aber die Piraten haben den Turm damals ausgeräumt. Hier werdet ihr nichts mehr finden, was euch nützen würde. Wenn ihr aber direkt hierhin gewollt hättet, hätten wir uns die zwei Stunden Gelaufe sparen können, ich mei-" – „Dummer Junge", fiel ihm Valeé ins Wort, „um Himmels Willen, es gibt einen Leuchtturm." Sie hastete die Holztreppe ins Obergeschoss hoch und ließ den sichtlich verwirrten Schiffsjungen stehen. Das ehemalige Wohnzimmer durchzog eine Spur der Verwüstung, Sofapolster waren aufgeschlitzt worden, Möbel zertrümmert, Bettlaken zerschnitten. Eine Abtrennwand lag, in der Mitte durchgebrochen vor einer Tür, die einen spaltbreit offen stand. Auf ihr, wie als hätte sie den Inhalt dieses Zimmers um jeden Preis beschützen wollen, eine Leiche. Die Matrosen fassten sich an den Hut und auch Valeé und Julian senkten ihren Kopf. Die eindeutig männliche Person hatte seine Familie beschützen wollen – und hatte mit dem Leben bezahlt. Vorsichtig stieg Valeé über das Skelett und stieß die Tür zum nächsten Raum auf. Dies war wohl das Schlafzimmer gewesen. Auch hier war alles zertrümmert und geraubt worden. Auf dem Bett inmitten von Buchseiten und Scherben lag ein weiteres Skelett. Geschockt trat sie an die schmächtigere Gestalt heran. Es war keine Frau gewesen. Unwillkürlich hatte sie das freundliche, wettergegerbte Gesicht eines alten Mannes vor sich und schluchzte laut auf. Sie wirbelte herum und funkelte einen sichtlich kreidebleichen Finnis an: „Was seid ihr nur für Monster? Diese Menschen waren wehrlos!" Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. „Shh", murmelte Julian, „er kann nichts dafür." Eine Träne kullerte über ihre Wange, dann kniete sie sich nieder und sprach ein Gebet für die ermordeten Bewohner des Turms. Als sie nach einer Weile wieder aufstand war ihr Gesicht voller Hass: „Ich bin froh, dass ich dieses Monster umgebracht habe!" Mit diesen Worten rauschte sie am ehemaligen Schiffsjungen jenes Monsters vorbei und erklomm die Turmtreppen. Als die anderen bei ihr ankamen, kniete sie bereits vor einer kugelförmigen Einfassung an Stelle des Leuchtfeuers. „Seht nur! Wir haben tatsächlich eine Chance auf Rettung!" Sie lachte: „Wir müssen nur den Leuchtturm in Betrieb nehmen und ein Notsignal senden und man wird uns meilenweit auf dem Meer sehen. Uns fehlt nur der Gegenstand, der in diese Fassung gehört..." Finnis schüttelte den Kopf: „Wie gesagt, der Turm ist völlig nutzlos. Den einzigen, der wusste, wie man das hier in Betrieb nimmt, habt ihr in die Luft gejagt und uns hat er nie verraten, wie es geht, ja sogar verboten hierher zu kommen. Ihr könnt es gern mit einem herkömmlichen Feuer versuchen, aber kein Schiff wäre so lebensmüde in Reichweite einer Pirateninsel zu fahren, dass sie euer Leuchtfeuer sehen würden. Es ist aussichtslos..." – „Nein, ist es nicht!", Valeé sah ihn festentschlossen an, „Es gibt immer einen Weg!"

Die SchicksalsinselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt