Und dann ging er.

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Es war kurz vor Weihnachten und überall hingen schon die Weihnachtsdekorationen. Überall waren Lichterketten und kleine Schneemänner. Draußen aufm Hof stand mitten im Innenhof ein riesiger beleuchteter Tannenbaum. Das Reitzentrum und die umliegenden Weiden waren von Schnee bedeckt. Heute hatte ich viel geschafft. Ich hatte mit Jonny in der Reithalle einfach Dressur gemacht und bin ein wenig über Stangen geritten. Danach hatte ich mich mit Peter Pan beschäftigt und Jason beim Aufräumen der Sattelkammer geholfen. Jetzt war es 4pm und bereits dunkel. In Reithose, Winterboots und dicker Jacke lief ich über den Innenhof, um Peter zu finden. Ich sah von draußen in die Box von Schmiddi und sah ihm dabei zu, wie er die Beine des Schimmels kontrollierte.

„Ich fahr jetzt los mit Lynn", meinte ich zu ihm. Er richtete sich auf, atmete tief ein und nickte seufzend.

„Wenn es sein muss, ist es okay", erwiderte ich. Ich nickte und ging in Richtung Reithalle, neben welcher mein Jeep stand. Ich befreite ihn vom Schnee und setzte mich in das eisige Auto. Langsam rollte ich zum Haupttrakt und sah, wie Lynn aus der Wohnung kam und versuchte zum Auto zu joggen, dabei aber schön über den Schnee zur Beifahrertür glitschte. Es war einfach unfassbar glatt. Sie kletterte in mein Auto und richtete sich lachend ihr Stirnband.

„Warum ist es bloß so kalt", nörgelte sie

„Das ist Winter", widersprach ich und rollte durch den Torbogen raus auf den Highway. Während der Fahrt redeten wir über das Training, Rocky Rubin und Schmiddi. Schmiddi machte gute Fortschritte und war Peters kleines Baby. Calvin ritt den Schimmel neuerdings nicht mehr, da seine Eltern ihm einen Fuchs gekauft hatten, der jetzt auch bei uns stand. Peter hatte nun beschlossen sein Pferd selbst zu reiten und wir fanden es toll zu sehen, wie Peter aufblühte, seitdem er selbst wieder ritt. Rocky Rubins Zukunft war noch immer ungewiss. Zwar war er wieder belastbar, doch Lynn wollte ihm keine anstrengende Saison zu muten. Sie würde wohl sehr wahrscheinlich wieder Turniere reiten, nur nicht so intensiv wie die letzten zwei Jahre.

Nach knapp einer Dreiviertelstunde Fahrt, erreichten wir unser Ziel. Der große Stallkomplex lag da so stumm in dem Flutlicht. Seufzend schlug ich die Autotür zu und schloss mein Auto ab. Täglich fuhr ich hier her. Jeden Abend nahm ich die nervige Fahrt auf mich und blieb manchmal bis spät nachts. Lynn und ich betraten den großen hellen Stall. Rechts und links standen in den Boxen Pferde. Junge Pferde, alte Pferde, kranke Pferde, Pferde mit Brüchen. Eine Frau begrüßte uns. Sie kannte uns, und besonders mich, inzwischen gut.

„Selbe Box wie immer", meinte sie lächelnd und ging mit der großen Schubkarre voller Pellets an uns vorbei. Vorletzte Box rechts, das war die Box die sie meinte. Lynn und ich waren einer der letzten, die hier noch waren. Als wir die Box erreichten schob ich die Boxentür zur Seite und sah das Pferd an, wie es da stand mit hängendem Kopf.

„Hey Großer", nuschelte ich und betrat die Box. Der Rappe wieherte leise und stupste mich dann an. Ich strich über seine Stirn und atmete stotternd ein. Lynn stand da in der Boxentür und sah das Pferd bemitleidend an. Mister X's Zustand hatte sich stark verschlechtert. Seit knapp zwei Wochen stand er in einer Pferdeklinik. Seine Arthrose war extrem stark geworden und er litt große Schmerzen. Die Gelenke von ihm waren ständig heiß und sein linkes Auge war komplett erblindet. Rechts sah er nur noch schwer. Es war gekommen, wie die Frau es gesagt hatte. Sein Zustand war schlechter geworden, umso kälter es wurde. Mister X nahm mehr und mehr an Gewicht ab und wir wussten alle, dass er uns sehr bald verlassen würde. Als er zum ersten Mal absackte, brachten Jason und ich ihn in die Pferdeklinik, weil Mom, Lynn, Daniel und Peter an diesem Tag zusammen unterwegs waren. Wir bekamen direkt die Wahrheit ins Gesicht gesagt. Ich hatte es Zuhause dann irgendwie erklären müssen und Mom war in Tränen ausgebrochen. Mister X und Nightwish waren das einzige, was uns von Dad geblieben war. Jetzt würden wir auch sein Pferd verlieren. Mir fiel es anfangs sehr schwer, damit umzugehen, doch dann sah ich der Wahrheit ins Gesicht. Die Wahrheit war, Mister X ist 25 Jahre alt, hat eine lange Zeit und eine lange Reise hinter sich, war ein Pferd aus dem Leistungssport, erblindete und litt große Schmerzen. Seine letzten drei Jahre lebte er voller Lebensfreude, Erfüllung und Liebe. Er fand ein Zuhause nach all den Jahren, in denen er alleine war. Er fand einen Ort, an dem er friedlich sterben konnte und dieser Ort war Shelby. Jeden Abend wenn ich zu ihm fuhr, war mir bewusst, dass es wohl sein letzter Abend sein könnte.

Lynn kam auf Mister X zu und strich ihm über seine Schulter. Eine Ärztin, die seit Wochen ihn behandelte, kam dazu und sah uns eine Weile schweigend lächelnd dabei zu, wie wir dem Rappen Aufmerksamkeit schenkten.

„Er hat echt einen Platz gefunden in dieser Welt. Vom Teufels Hengst zum Familienmitglied", meinte sie in einer ruhigen Tonlage. Ich sah sie an und versuchte ihre Mimik zu lesen. Die letzten Male hatten sie immer gesagt, dass es langsam keinen Sinn mehr machte, doch ich hatte nur gesagte, dass so lange er voller Freude hier auf uns wartete, kein Arzt ihm die endgültige Spritze geben würde. Sie hatte mir zugestimmt. Doch heute, heute dachte ich anders darüber. Als ich mit Jonny vorhin ritt, merkte einfach, was mein Pferd alles für uns getan hatte. Er hatte für Streit gesorgt, er hatte ständig mich an meinen Vater und an Mister X erinnert, durch ihn kam Mister X nach Shelby und durch ihn kam Mister X der Familie Michaels wieder näher. Nightwishs Erfolg zeigte, zu was Mister X alles in der Lage gewesen wäre. Heute, als ich Jonny ritt, fühlte es sich anders an. Ich dachte an Mister X, an die gesamte Situation wie wir lebten und mit dem Gedanken umgingen, dass wir ihn jeder Zeit verlieren würden. Mir war bewusst wie viel Leid der Rappe ertragen musste und natürlich freute er sich jeden Tag auf uns, doch es war an der Zeit dem Pferd etwas zurück zugeben. Ihm die Ewige Ruhe zurückzugeben. Ihm seinen Reiter zurückzugeben.

Ich sah der Ärztin genau in die Augen und ihr Blick wurde zu einem fragenden.

„Ich glaube wir wissen alle, dass es nur unnötiges hinauszögern ist", gab ich seufzend von mir. Ihr Blick wurde ernst und sie nickte.

„Habt ihr beschlossen, dass ihr bereit ihn gehen zu lassen?", wollte sie wissen. Ich schüttelte den Kopf.

„Jeden Tag bevor ich her kam, meinten Peter und Mom, dass wenn es sein muss, es okay ist. Wir sollten an ihn denken und nicht an uns", entgegnete ich.

„Sehr vernünftig", lobte die Ärztin und verschwand in ihrem Büro.

„Bist du dir bewusst, was hier gerade passiert?", wollte Lynn sprachlos von mir wissen

„Ist dir bewusst, dass er nur noch lebt, weil wir es uns wünschen?", konterte ich und strich Mister X über die Stirn. Ich legte meine Arme um den, inzwischen schmaleren Hals des Pferdes und schloss die Augen. Lynn stellte sich zu mir und lehnte ihren Kopf gegen die Seite des Pferdes. Ich spürte wie Mister X an meiner Hosentasche knapperte und musste leicht lächeln. In meinem Hals war dieser Kloß, im Magen dieser Druck. Ich hielt Lynn meine Hand hin und sie nahm sie. Wir verschränkten unsere Finger und umklammerten uns regelrecht. Es ging uns beiden extrem nah und wir wollten stark sein und nicht weinen. Ich atmete tief durch und sah hoch gegen die Decke des Stalls.

„Du bekommst ihn wieder, Daddy", hauchte ich. Lynn sah ebenfalls nach oben und biss sich auf die Lippen.

„Danke, dass wir ihn elf Jahre haben durfte", fügte Lynn hinzu und verabschiedeten uns von Mister X.

Schweigend fuhren Lynn und ich nach Hause mit dem Wissen, dass ab heute ein Pferd weniger den Michaels gehören würde. Als wir Zuhause ankamen parkten wir das Auto am Rand im Innenhof und gingen zusammen in die Wohnung. Im Wohnzimmer saßen Mom und Jason vor dem Fernseher und Peter am Schreibtisch in der Ecke.

„Wir müssen euch was sagen", begann Lynn leise. Jason schaltete den Fernseher aus und Peter drehte sich in unsere Richtung.

„Mister X wird nicht mehr nach Hause kommen", meinte ich und meine Stimme brach zum Ende hin ab. Lynn und ich waren die ganze Zeit stark gewesen, doch jetzt wo wir vor unserer Familie standen und die Nachricht überbringen mussten, brach alles aus uns raus. Lynn ging zu Mom und weinte in ihre Schulter und ich drehte mich um und verließ die Wohnung. Ich lief in den Nordtrakt, holte mir eine Wolldecke aus der Sattelkammer und ging weinend zu Nightwish. Ich schob die Boxentür zur Seite und mein Pferd begrüßte mich mit einem Wiehern. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und lehnte mein verheultes Gesicht gegen den Hals meines Pferdes.

„Jetzt bist du das Letzte, das Letzte was uns von Daddy geblieben ist", hauchte ich und wischte erneut meine Tränen weg. Ich verkroch mich richtig in meiner Decke und starrte stur geradeaus. Jonny stupste immer wieder vorsichtig mit seiner Oberlippe gegen mein Kinn und meine Nase. Ich musste leicht lachen und atmete tief durch.

Eines Tages würden wir sie alle wiedersehen. Dad, Ben und Mister X. Ich war mir sicher, es gab einen weiteren Ort, an dem alle Michaels zusammenleben konnten – für immer.

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