Kapitel 1: Niemand

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Es war 6:51Uhr. Zu spät, wenn man bedenkt, dass Norlan um 7Uhr in der Schule sein sollte und relativ weit weg von dieser wohnte. Nach einer Nacht voller Alpträumen wachte der 17-Jährige Realschüler verträumt auf. Die Gardinen seines Zimmers waren noch unten, sodass nur ein paar schwache Lichtstrahlen das Fensterbrett erhellten. Seine müden Augen erblickten die roten Ziffern der Anzeige seines elektronischen Weckers auf dem Nachttisch rechts neben ihn. Erst auf dem zweiten Blick stellte er erschrocken fest, dass er nicht mal mehr 10 Minuten Zeit hatte um rechtzeitig zu den ersten beiden Physikstunden zu kommen.

„Och nein, nicht schon wieder!" stöhnte Norlan lautstark und sprang blitzschnell aus dem Bett. Mit schwarz-weiß krariertem Pyjama rannte er sofort zum kleinen, aber feinen Badezimmer und versuchte die Zahnbürste zu schnappen, die ihm aber aus der Hand direkt ins Waschbecken fiel. 

„Scheiß drauf." sagte er sich und lief zurück in sein Zimmer zum Kleiderschrank. Hektisch riss er die Schranktüren auf und wühlte sich durch die Masse an Pullovern, Socken und Hosen bis er endlich ein paar Sachen gefunden hatte, die farblich wenigstens ein bisschen zusammen passten. Nachdem er sich seine schlichten Klamotten fast vollständig unter Eile angezogen hatte, hüpfte er den Flur entlang bei dem Versuch sein Bein noch in das rechte Hosenbein zu quetschen. In der gefliesten Küche angekommen, mit der Absicht sich noch was zu essen einzupacken, guckte er flüchtig auf die Uhr, die neben dem Kühlschrank hing: „6:56Uhr?!" keuchte er und rannte zurück in sein Zimmer. Schnell schnappte er sich seinen zum Glück schon gepackten, schwarzen Schulrucksack und schwang ihn auf seinen Rücken. Den Schultergurt fest in der Hand rannte Norlan zur Wohnungsstür. Beinahe gestolpert, flitzte er die Treppen runter und schwang die Eingangstür des Hauses auf.

Außer Haus, welches lediglich ein schlichter Neubau war, begab er sich sofort zu seinem nicht mehr ganz so sauberen, roten Fahrrad an den Fahrradständern, nahe der Eingangstür. Gestresst und schwer atmend fuhr er die heimischen Straßen entlang. Norlan wohnte mit seiner Mutter in einer etwas größeren Stadt namens Furroday. Eine typische Großstadt mit einigen Parks und etlichen Neubauten wie seiner. Sie lebten in einem etwas ärmlichen Viertel, regiert von Drogendealern und Säufern, von denen er sich aber immer ferngehalten hatte. Eigentlich mochte er diese Stadt, aber diese Gegend war ihm zuwider, weshalb er sich die meiste Zeit eher in seiner Stube verschanzte und ein paar Games zockte. Wenn er nur endlich die Schule abschließen und einen Job finden würde, wäre er in nullkommanichts weg von hier. 

Nach vielen Kreuzungen und roten Ampeln sah er in der Ferne schon die weinroten Dachziegel seiner alten, jedoch schönen Schule in der Sonne glänzen. Dort angekommen, schmiss er sein Fahrrad an den Rand, der von den vielen Fahrrädern besetzten, Fahrradständern der Schule und stürmte in das Gebäude.

Geradewegs durch den langen, breiten Schulflur, sah er am Ende des Ganges die weiße Tür des Physikraumes und lief so schnell er konnte dort hin. In seinem Kopf spielten sich verschiedenste Szenarien ab, wie sein Physiklehrer wohl diesmal reagierte, wenn er wieder mal zu spät kommt. Dabei durfte er sich sowas gar nicht leisten, denn die Prüfungen kämen bald auf ihn zu und Physik war nicht sein Lieblingsfach. Definitiv nicht.  Als die Tür zum Greifen nah war, hielt er an und riss den Ärmel seines blauen Pullovers hoch. Seine kleine Armbanduhr zeigte 7:06Uhr an.

Ein kleines „Fuck!" entwich ihm beim Anblick der Zeit und schließlich klopfte er an der Tür. Die alte Stimme seines Physiklehrers bat ihn herein und nur zögerlich drückte er die Türklinke nach unten. Es erwarteten ihn 25 starrende Gesichter, einschließlich das des Lehrers Herr Fink:

„Na lass mich raten, da hat jemand seinen Wecker wieder vergessen zu stellen, huh?"

„Ich...ähm...entschuldigen Sie, dass ich zu spät bin. Wird nicht nochmal passieren."

„Jaja, das sagtest du auch letztes und vorletztes Mal. So langsam reicht es mir Norlan! Du kommst in letzter Zeit immer wieder zu spät! Setz' dich einfach und höre wenigstens zu!"

Mit einem hängendem Kopf und unterdrückter Wut setzte sich Norlan schließlich auf seinem Platz in der hintersten Reihe. Er saß allein und hatte somit niemandem zum Reden außer die Lehrer, die ihn oft von seinen Tagträumen ablenkten. Auch meldete er sich nie. In keinem Fach. War auch nie ein besonders guter Schüler.

Freunde? Norlan war eher Einzelgänger und aß auch in den Pausen immer allein. Der normal gebaute, blonde Junge wusste auch nie, wie es ist eine Freundin oder dergleichen zu haben. Vielleicht war er zu schüchtern, vielleicht aber auch zu hässlich? Viele solcher Fragen stellte er sich immer wieder. Diesmal jedoch beschäftigte er sich nicht mit solchen Fragen, sondern dachte neben Beleidigungen an seinem Lehrer, viel mehr darüber nach wie es wäre kein Niemand mehr zu sein. Jemand den allemann bewundern und nichts einem etwas anhaben kann. Jemand mit jeder Menge hübscher Mädchen in den Armen und absoluter Macht. Davon ganz zu schweigen, was er damit seinem verhassten Physiklehrer antun würde.

Er ließ die Stunden verstreichen. Wie jedes Mal, blickte er nur aus dem Fenster und starrte die singenden Vögel oder andere Leute an, welche an der Schule vorbeigingen. Jede Einzelne von seinen insgesamt 8 Stunden heute fragte er sich, warum er bei solch einem schönen Wetter hier saß und sich Dinge in den Kopf prügeln musste, welche er wahrscheinlich nie wieder brauchen würde.  

Mit leerem Magen und mal wieder viel zu vielen Hausaufgaben ging er zu seinem Spind, packte seine schweren Deutsch- und Chemiebücher rein und machte er sich auf dem Weg zu seinem Fahrrad. Eine sanfte Brise strich durch sein Haar, als er endlich die Außenwelt erreichte. Nur noch schnell um die Ecke, das Fahrrad holen und zu Hause eine Runde (oder auch mehrere) Videospiele spielen. Dies war sein üblicher Tagesablauf. 

Ungeduldig suchte er die Reihen an Fahrradständern ab. Er fand es nicht. Sein teures Fahrrad war weg. Jedenfalls nicht dort, wo er es hingeschmissen hatte.

„Oh Gott, nein, das kann doch nicht wahr sein."

Mit zusammengeschlagenen Händen über dem Kopf und fassungslosem Gesicht, musste der Junge feststellen, dass sein Mountainbike geklaut wurde. Als wäre das noch schlimm nicht genug gewesen, fing es auch noch an zu regnen. Er blickte nach oben und betrachtete die dunkelgrauen Wolken, die die Sonne mit ihren Lichtstrahlen förmlich verschluckten. Ein paar Tropfen berieselten darauf sein Gesicht. 

„Tief ein- und ausatmen Norlan" sagte er zu sich und atmete mit diesen Worten ein und aus. Voller Wut und Angst vor der Reaktion seiner Mutter ging er schließlich nach Hause durch den kalten Regen und den nassen Straßen Furrodays.

Kylak's WarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt