Nur Für Einen Augenblick

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"Denkst du, ich bemerke nicht, wie du mich die ganze Zeit anstarrst?", fragte ich lachend und drehte mich zu meinem besten Freund um.

"Tut mir leid, aber du bist echt eine Sehenswürdigkeit.", grinste er und warf sich Chips in den Mund.

"Haha." Ich war gerade noch unter der Dusche gewesen und trug jetzt den rosafarbenen Plüschbademantel meiner Mutter. Meine langen Haare hatte ich in ein Handtuch gewickelt und meine Füße in Puschen gesteckt, was Emre offenbar sehr amüsant fand.

"Du hast dich ja jetzt auch nicht gerade schick gemacht für das Neue Jahr.", erinnerte ich ihn und musterte ihn, wie er da auf meiner Couch lag. Ein ausgeleierter Pulli und eine verwaschene Jogginghose. Und dekoriert war er mit Chipskrümeln. "Du siehst aus, als wäre das Krümelmonster über dich hergefallen."

"Wenigstens einer, der mir Zuwendung spendet.", sagte er gespielt melodramatisch.

"Hey! Ich lasse dich seit Tagen bei mir übernachten! Wenn das keine Zuwendung ist, weiß ich auch nicht."

"Ach, du willst doch nur von meinen Kochkünsten profitieren.", grinste er frech.

"Emre, du kochst als wärst du blind und würdest auf gut Glück Zutaten in den Topf werfen." Ich hatte ihn einmal kochen lassen. Ja, Nudeln konnten tatsächlich anbrennen.

"Ach, ich höre nicht auf verrückte Hausschuh-Ladys.", behauptete er. Ich verdrehte die Augen und ging ohne ein weiteres Wort in mein Zimmer, um mir Klamotten rauszusuchen, die ich anstelle des rosa Bademantels tragen könnte. Emre und ich wollten um Mitternacht auf den Balkon und das Feuerwerk der anderen Menschen betrachten, da wir selbst keines besorgt hatten.

Ich holte mir neue Unterwäsche aus dem Schrank und ein uraltes Oversize-Shirt sowie eine Leggings. In der Wohnung war es so gut geheizt, dass ich auch nackt rumlaufen könnte, wenn niemand ein Fenster öffnen würde. Der Schnee war zwar schon wieder geschmolzen, aber 3° über null waren auch nicht gerade kuschelig.

Als ich vollständig angezogen war, ging ich zurück ins Wohnzimmer, wo Emre gerade eine Fernsehsendung mit gelangweiltem Gesichtsausdruck verfolgte. Ich warf mich ohne Vorwarnung neben ihn.

"Oah, du Walross! Wie kann jemand so winziges so schwer sein?", beschwerte er sich, als ich zur Hälfte auf ihm landete.

"Wie kann jemand so breit sein, dass man immer auf ihm landet?", stichelte ich zurück.

Er machte Anstalten, mich wegzuschubsen, hielt aber plötzlich inne. Verwirrt sah ich zu ihm und bemerkte, wie er auf meine Arme starrte. Ich folgte seinem Blick und verfluchte mich für meine Kleidungswahl. Meine Narben waren nahezu vollkommen entblößt. Ich wollte meinen Arm wegziehen, doch Emre hielt ihn fest und sah mich wütend an.

"Was ist das?" Er hielt meinen Arm nach oben.

"Ein Arm?", spielte ich die Dumme.

"Du ritzt dich?", fragte er mit drohendem Unterton.

"Ich habe mich geritzt. Ich mach das schon seit Jahren nicht mehr, sonst würden die Narben ganz anders aussehen." Wieder versuchte ich, ihm den Arm wegzuziehen, doch er hielt ihn fest umklammert.

"Lass mich los, Emre. Du tust mir weh."

Erschrocken ließ er sofort los und ich zog meinen Arm schützend an meinen Körper, bevor er es sich wieder anders überlegte und nochmal danach schnappte.

"Warum?", fragte er jedoch nur.

"Warum habe ich vor dreieinhalb Jahren versucht, mich umzubringen?", fragte ich zurück, und Emres Gesichtszüge wurden sofort weicher. Er zog mich an sich und vergrub seinen Kopf in meinen Haaren, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Ich war verwirrt. War er noch sauer, hatte er mir schon wieder verziehen? Hatte er überhaupt das Recht, sauer zu sein?

Das Mädchen, das mit den Toten sprachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt