Argwöhnisch schielte ich zu Emre. Seine Augen waren geschlossen und sein Kopf gegen das Zugfenster gelehnt. Seine regelmäßigen Atemzüge brachten ein leises Schnarchen mit sich. Ich lehnte mich vor zu Anda, die dieses Mal mit ihrer Mutter vor uns saß, und stupste sie leicht an.
"Wieso schnarcht dein Bruder jetzt plötzlich? Er schnarcht doch sonst nicht!", beschwerte ich mich brummig.
"Er schnarcht nur, wenn er krank ist.", antwortete sie schulterzuckend.
"Er hätte sich in Ungarn eben doch eine Jacke anziehen sollen!", mischte sich die Mutter der beiden ein. "Frühling hin oder her, bei zehn Grad zieht man eine Jacke an!"
"Keine Sorge, ich hab Ohrstöpsel mitgenommen.", zwinkerte Anda mir noch zu, bevor sie sich wieder nach vorn richtete. Ich ließ mich zurück in meinen Sitz fallen und versuchte die Geräusche, die Emre verursachte, nach Kräften zu ignorieren. Leicht schläfrig ließ ich meinen Blick über eine Seite in meinem Notizbuch wandern, auf der ich mir rumänisches Standardvokabular aufgeschrieben hatte. Das einzige, was Emres Verwandte gemeinsam hatten, war nämlich ihre Fähigkeit, rumänisch zu sprechen. Deutsch verstanden die wenigsten und selbst Englisch sprachen nur einige Jugendliche und junge Erwachsene. Deshalb hatte ich mir von Emre einige Wörter und Redewendungen beibringen lassen. Ein Gespräch würde ich zwar nicht führen können, aber immerhin würde ich unsere Gastgeberin begrüßen können.
Die größte Herausforderung stellte für mich die Aussprache einiger Wörter da. Emre hatte mir zwar alles mehrfach vorgesprochen, aber mein erschöpftes Gehirn hatte 80 Prozent davon bereits wieder vergessen und Google Übersetzer war auch keine große Hilfe. Wenn man dort auf 'Anhören' klickte, sprach die Computerstimme die Wörter so blechern und abgehackt aus, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass es richtig war.
Ich gab es auf, zu versuchen, mir die Vokabeln einzuprägen und starrte stattdessen an Emre vorbei aus dem Fenster. Wir fuhren durch eine idyllische grüne Landschaft, fernab von irgendwelchen Städten. Laut dem Fahrplan sollten wir den Hauptbahnhof Constanţas allerdings in zwanzig Minuten erreichen. Von dort aus würden wir mit einem Taxi zu Emres Großmutter weiterfahren, da um diese Zeit schon keine Busse mehr in die Gegend fuhren, in der Ilena wohnte.
Der Zug bog sich nach rechts und ich konnte in der Dämmerung erste Lichter einer Stadt erkennen. Aufregung machte sich in mir breit und ich lehnte mich näher zum Fenster, um mehr entdecken zu können.
"Was machst du denn da?", murmelte mein mich verwirrt anblinzelnder Freund.
Ich lächelte ihn liebevoll an und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Wir sind bald da.", erklärte ich ihm und deutete auf die Landschaft hinter der Glasscheibe.
"Na endlich!", gähnte er und streckte sich ausgiebig. "Ich kann es kaum erwarten, wieder in einem richtigen Bett zu liegen."
"Du hast fast die ganze Fahrt geschlafen und bist immer noch müde?", fragte ich verblüfft.
"Kennst du das, wenn man so viel schläft, dass man wieder müde wird? Das hab ich.", wollte er mir weismachen.
"Dornröschen-Syndrom?", schlug ich grinsend vor. Er streckte mir nur ungerührt die Zunge raus.
"Hast du noch ein bisschen geschlafen?", erkundigte er sich bei mir. Ich schüttelte jedoch den Kopf.
"Nur die zwei Stunden am Anfang der Fahrt.", berichtete ich ihm. "Es war echt langweilig."
"Immerhin sind wir ja bald da." Mit einem Lächeln griff er nach meiner Hand und drückte sie. Das altbekannte Kribbeln breitete sich in mir aus und wieder einmal konnte ich kaum fassen, wie glücklich er mich machte.
DU LIEST GERADE
Das Mädchen, das mit den Toten sprach
FantasíaSeit sie vor drei Jahren versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, kann Bree die Toten sehen und sich sogar mit ihnen verständigen. Das führt dazu, dass für sie eine eigenartige Faszination für den Tod entwickelt und mehr verstorbene als lebendige F...