Morgengrauen

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Stumm starrten Emre und ich auf die Stelle, an der eben noch die Geister gestanden haben. Inzwischen dämmerte es bereits und das Gezwitscher verschiedener Vögel drang an unsere Ohren. Fast schien es so, als wäre nichts von all dem, was wir gerade erlebt hatten, real. Doch überall auf unserem Weg zurück fanden wir Spuren eines Kampfes, die bewiesen, dass das Vergangene mehr als nur ein Traum war.

Auch das Loch in meinem Oberschenkel erinnerte mich daran. Emre hob mich hoch und ich nahm seine Hilfe dankbar an, denn ich war wirklich am Ende meiner Kräfte. Es dauerte, bis wir den Weg zurück zur Hütte gefunden hatten, doch glücklicherweise hatte Emre einen besseren Orientierungssinn als ich.

Auf den Stufen ließ er mich vorsichtig herunter und ich folgte ihm durch die zerstörte Tür. Mir fiel sofort das zerstörte Bett auf, das in Einzelteilen verstreut auf dem gesamten Boden lag, woraufhin ich auf dem Absatz umdrehte und wieder nach draußen ging.

"Bree... Was ist los?", erkundigte Emre sich verwirrt, doch ich weigerte mich, einen Blick zurück zur Hütte zu werfen.

"Ich geh da nicht mehr rein. Nie wieder. Tut mir leid, aber als wir heute Nacht dort gefangen und Brandon ausgeliefert waren..." Ich zitterte bei dem Gedanken daran. "Es ist, als wäre er immer noch da drin. Ich will hier nicht mehr sein."

"Aber er wird nie mehr zurückkommen." Emres Arm legte sich sanft um meine Schultern und ich wusste, dass er mich beruhigen wollte.

"Das weiß ich ja. Aber irgendwie ist das Haus so erdrückend. Es ist allein die Erinnerung, weißt du?", versuchte ich, es ihm zu erklären.

"Ich verstehe. Dann verspreche ich dir, hier so bald wie möglich wegzugehen, in Ordnung? Ich hol nur noch schnell das Notfalltelefon und dann hauen wir hier ab."

"Ist gut." Ich drückte kurz seine Hand und wandte meinen Blick zum Morgenhimmel, während Emre wieder in der Hütte verschwand. Das tiefe Blaugrau der Nacht wurde von Pastellfarben durchzogen und kündigte einen neuen Morgen an. Wenn man das Gesamtbild betrachtete, war es ein Morgen wie jeder andere. Niemand außer uns beiden wusste, dass wir die Nacht nur knapp überlebt hatten und niemand würde es je erfahren.

Ich hörte Emres Schritte hinter mir und drehte mich lächelnd zu ihm, um ihn zu küssen. Er legte seine Hände auf meine Hüfte und erwiderte den Kuss, langsam und zärtlich. Doch dann löste er sich schmunzelnd von mir, die Hände immer noch auf meinem Körper.

"Wofür war der denn?", fragte er mich.

"Darf man seinen Freund denn nicht einfach so küssen?", antwortete ich ihm bloß, woraufhin er mich erneut an sich zog.

Doch diesmal war ich diejenige, die sich löste und stattdessen nach seiner Hand griff. "Wir haben noch einen langen Weg vor uns, fürchte ich."

"Du kannst aber unmöglich den ganzen Weg laufen. Ich werde einen Krankenwagen rufen und dann müssen wir nur irgendwie bis zur Straße kommen.", sagte er und zückte das Telefon, doch ich hielt seine Hand fest und sah unsicher zu ihm auf.

"Ist das wirklich so eine gute Idee? Die Ärzte wollen doch sicher wissen, woher ich diese Wunde haben und wir können ihnen unmöglich die Wahrheit erzählen.", warf ich ein.

"Natürlich können wir das. Du hast dir die Wunde durch einen unglücklichen Sturz über einen Baum zugefügt.", formulierte Emre eine glaubwürdigere Halbwahrheit, doch ich legte nur skeptisch den Kopf schief.

"Warum sollten wir denn mitten in der Nacht durch den Wald gerannt sein? Und was ist mit den ganzen kleineren Wunden, die wir haben? Man wird denken, dass wir uns... Gestritten haben.", äußerte ich meine Befürchtungen.

Das Mädchen, das mit den Toten sprachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt