Familientreffen

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Heute war ein Sonntag wie jeder andere, abgesehen von der Tatsache, dass ich mir vorgenommen hatte, eine tote Frau und ihre Tochter wieder zu versöhnen. Manchmal, aber auch nur manchmal fragte ich mich, was so schlimm an einem normalen Leben wäre.

Ein Leben ohne Geister.

Ein Leben, in dem ich mich schon längst auf Emre eingelassen hätte, in dem er mich schon längst hätte verletzen können. In dem wir aber auch hätten glücklich verliebt sein können.

Aber so war mein Leben nicht. Außerdem hatte ich Elisabeth versprochen, ihr zu helfen, also befand ich mich bereits auf dem Weg zum Friedhof. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, mir unaufhörlich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich mich Leanne gegenüber verhalten sollte. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie überhaupt aufkreuzen würde. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, klang der Brief, den ich ihr geschickt hatte, schon irgendwie geisteskrank. Haha, Wortspiel.

Egal, jetzt gab es kein Zurück mehr. In 50 Metern Entfernung sah ich bereits eine Gruppe von Geistern auf mich warten, unter ihnen natürlich auch Brandon und Elisabeth. Ich schenkte allen mein zuversichtlichstes Lächeln und begab mich in ihre Mitte, als ich den Friedhof betrat.

"Heute ist dein großer Tag, Elisabeth.", hörte ich eine tiefe männliche Stimme sagen.

"Bist du aufgeregt?", fragte eine Kinderstimme.

"Ich hoffe sie kommt...", bangte eine Geisterfrau.

Alle redeten als durcheinander und ich versuchte nur, Elisabeth im Auge zu behalten. Wenn sie noch am Leben wäre, hätte sie sich vermutlich jeden Moment übergeben, denn sie sah furchtbar mitgenommen aus.

"Hey Leute, haltet doch mal kurz die Klappe!", zerriss plötzlich Brandons Anweisung das Getuschel. Ich sah überrascht zu ihm, doch er sah in die Ferne. "Ist sie das? Ist das Leanne?"

Alle Köpfe folgten seinem ausgestreckten Arm und entdeckten eine weibliche Person, die dem Friedhof immer näher kam. Elisabeth griff sich ans Herz und nickte bestätigend.

"Das ist sie.", flüsterte sie ehrfürchtig.

Die Geister zerstreuten sich murmelnd und auch ich beschloss, mich aufs Erste zurückzuhalten. Ich entfernte mich von Elisabeths Grab und setzte mich vor Brandons, von wo aus ich Leanne unauffällig beobachten könnte.

Ich hockte mich hin, die Schmelzwasserpfützen sorgfältig vermeidend, und nahm Blickkontakt mit Brandon auf. Dieser sah mindestens so nervös aus, wie ich mich fühlte. Wir beobachten schweigend, wie die Frau, die ich auf Mitte dreißig schätzte, den Friedhof betrat und sich skeptisch umsah. Ihr Blick fiel auch auf mich, doch ich richtete schnell meine Augen auf die Inschrift auf Brandons Grabstein, als wäre auch ich nur eine einfache Besucherin.

Ich las seinen Namen gefühlt hundert Mal, bevor ich mich wieder traute, erneut aufzusehen. Brandon Miller, Brandon Miller, Brandon Miller.

Doch als ich meinen Kopf wieder hob, war Leanne tatsächlich weitergegangen und stand jetzt unmittelbar vor dem Grab ihrer Mutter. Sie sah etwas unentschlossen aus, wie sie da stand und ich beschloss, dass es für mich an der Zeit war, meine Deckung zu verlassen. Ich warf Brandon ein letztes Lächeln zu und stand dann auf, um zu ihr zu gehen.

Kurz bevor ich sie erreichte, hörte ich sie schon leise fluchen. "Was mache ich hier eigentlich? Meine Mutter ist tot, sie schreibt keine Briefe mehr an mich! Ich sollte lieber gehen, bevor noch der Axtmörder kommt, der in Wirklichkeit hinter all dem steckt.", murmelte sie aufgebracht.

"Leanne?", fragte ich sicherheitshalber. Die Frau drehte sich überrascht um und zog ihre fein gezupften Augenbrauen in die Höhe, als sie mich sah. Sie sah ihrer Mutter verblüffend ähnlich. Ich fühlte mich, als hätte ich eine Zeitreise gemacht, als ich in ihre blauen Augen sah und bemerkte, dass sie ihre braunen Haare genau wie ihre Mutter zu einem Knoten hochgesteckt hatte.

Das Mädchen, das mit den Toten sprachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt