Das letzte Jahr

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Das schrille Piepen meines Weckers riss mich ruckartig aus meinem Schlaf. Verstört starrte ich auf die roten Zahlen, die 6:00 Uhr zeigten. Ich stöhnte und zog mir die Decke über den Kopf, mich selbst bemitleidend, dass ich erst kurz vor Vier Uhr hatte einschlafen können. Völlig müde quälte ich mich im Schneckentempo aus meinem warmen Bett und begann mich anzuziehen. Ich entschied mich für ein hautenges schwarzes Top, über das ich einen dunkelgrauen Wollpulli als Jackenersatz anzog, und für eine ebenfalls schwarze High-Waist-Jeans. Im Sommer war mein Kleidungsstil wirklich herausfordernd. Nachdem ich mir die Zähne geputzt hatte, setzte ich mich vor meinen Zimmerspiegel und begann damit, meine heutige Maske aufzutragen. Ja, irgendwie betrachtete ich Makeup immer als eine Art Verkleidung, als Teil des Gesamtauftritts. Ich umrandete meine braunen Augen mit schwarzem Kajalstift und tuschte meine ohnehin schon langen Wimpern mit Mascara noch länger und voluminöser. Dann trug ich eine Schicht von dunkelbraunem Lippenstift auf meinen Mund auf.

Zufrieden betrachtete ich mein Spiegelbild. Früher hatte ich mich hässlich gefunden, doch mittlerweile gab ich so wenig auf die Meinung anderer Leute, dass ich sogar soweit gehen würde, mich als schön zu bezeichnen. Wenn man auf Goths stand. Eigentlich war ich zwar keiner, aber das hielt den Pöbel nicht davon ab, mich trotzdem so zu bezeichnen. Doch jegliche Diskriminierungsversuche meiner Mitmenschen prallten mittlerweile an mir ab wie Gummibälle an Steinmauern. Ich band meine hüftlangen Haare zu einem hohen Zopf zusammen, weil sie mich andernfalls störten. Eigentlich wäre es an der Zeit, sie abzuschneiden, aber obwohl ich Kurzhaarfrisuren bei Frauen echt sexy fand, traute ich mich nicht, meine Haare ebenso zu kürzen.

Also wurden sie nur immer länger, was aber auch nicht schlecht war. Ich packte den Lippenstift in meine Schultasche, für den Fall, dass ich würde nachziehen müssen, und kontrollierte nochmals, ob alles andere auch drin war. Schreibblöcke, Federtasche, neues Hausaufgabenheft... Scheinbar war alles da. Also schlich ich, um meine Mutter nicht zu wecken, aus meinem Zimmer und in den Flur, wo ich noch nach meinem Schlüssel suchen musste. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis ich ihn fand und mir im nächsten Schritt meine Schuhe anzog, ebenfalls schwarze, derbe Boots. Mit dem Schlüssel in der Hand öffnete ich die Haustür und ging raus.

"Guten Morgen", begrüßte mich eine Stimme in unserem Treppenhaus. Erschrocken drehte ich mich um und sah in das selbstgefällig grinsende Gesicht von dem Typen, der mich gestern schon belästigt hatte.

"Nicht du schon wieder.", stöhnte ich. Na, das war doch mal ein Montag, wie er im Buche stand.

"Was hast du bloß gegen mich, Tascha? Darf ich dich so nennen, Tascha?"

Ich sah ihn an, als wäre er verrückt geworden.

"Wieso zur Hölle solltest du mich so nennen?", blaffte ich ihn an. Ich war vieles, aber sicher kein Morgenmensch.

"Weil dein richtiger Name doch Natascha ist!", erklärte er mir.

"Oh klar, sorry, an die Lüge habe ich mich schon gar nicht mehr erinnert." Ungerührt drehte ich mich um, um die Tür abzuschließen.

"Also... heißt du gar nicht Natascha?", fragte er irritiert.

"Eehh - Nein?" Ja, ich war zickig. Aber auch nur zu Typen wie ihm, die dachten, sich mit ihren perfekten braunen Haaren und den markanten Gesichtszügen alles erlauben zu können. Mit diesen Ach-so-coolen  und beliebten  Menschen hatte ich meine Erfahrungen gemacht - und es hätte mich fast mein Leben gekostet.

"Okay, und wie heißt du dann?"

"Das geht dich gar nichts an!"

"Wir gehen vielleicht in die gleiche Schule?" Oh Gott, bitte nicht.

Das Mädchen, das mit den Toten sprachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt