Eis und Amok

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Nur im Handtuch eingewickelt, lag ich auf dem Bett und starrte an die Decke. Seit Emre gegangen war, verging über eine Stunde und meine Augenlider begannen, immer schwerer zu werden. Gerade als ich einnicken wollte, öffnete sich die Tür doch noch. Emre schob seinen Kopf durch die Tür und schaute mich vorwurfsvoll an.

"Hey, ich dachte, du wolltest nachkommen?", erinnerte er mich.

"Da wusste ich noch nicht, dass Duschen so wohltuend sein kann.", lächelte ich entschuldigend. "Tut mir leid."

"Nicht so schlimm, ich hab Eis mitgebracht." Jetzt betrat er das Zimmer komplett und ich sah, dass er in beiden Händen Schüsseln balancierte. Eine davon reichte er mir, bevor er die Tür schloss und sich neben mich setzte.

Begeistert schnappte ich ihm einen Löffel aus der Hand und steckte mir Schokoeis in den Mund. Es schmeckte köstlich. "Emre, du bist ein Schatz. Nein, ein Lebensretter! Geheiligt werde dein Name!", bedankte ich mich überschwänglich, während ich den nächsten Löffel nahm.

"Wenn du so großen Hunger hast, hättest du doch hochkommen sollen.", lachte er und steckte sich seinen eigenen Löffel in den Mund.

"Ich wusste ja nicht, dass euer Eis so gut schmeckt!", erklärte ich und lehnte mich gegen die Wand. Emre kickte seine Schuhe von seinen Füßen und warf die Decke über unsere Beine.

Obwohl die Schüssel bestimmt mit vier Kugeln gefüllt war, hatte ich sie viel zu schnell aufgegessen. Emre leider auch, weshalb ich ihm nichts mehr klauen konnte. Er nahm mir die Schüssel ab und stellte sie auf einer Kommode ab.

"Und was machen wir jetzt?", fragte er an mich gerichtet.

"Schlafen!", gähnte ich und streckte meine Arme.

"Falsch, wir brauchen einen Plan!", korrigierte Emre mich. Ich zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

"Was für einen Plan denn?", wollte ich skeptisch wissen, woraufhin Emre mir seinen Ist-das-dein-Ernst-Blick widmete.

"Wie wir Brandon loswerden?!"

Ich schnitt eine Grimasse. "Toll, ich hab gerade zwei Sekunden lang nicht an ihn gedacht.", seufzte ich. Mein Freund krabbelte zurück zu mir ins Bett und nahm mich in den Arm.

"Tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass es sich hier um ein Problem handelt, das sich von selbst löst. Du kannst nicht immer weiter durch Europa reisen und hoffen, dass er dich vergisst, während er immer stärker wird."

"Aber was sollen wir denn machen? Er ist ja verdammt nochmal schon tot!" Frustriert wühlte ich durch meine noch feuchten Haare.

"Erstmal finden wir heraus, mit wem wir es zu tun haben."

"Toll, wie willst du das machen?"

Er hielt sein Handy in die Höhe und grinste. "Facebook."

Ich schlug mir gegen die Stirn. "Na klar, warum ist mir das noch nicht eingefallen?"

"Wer kommt schon auf die Idee, einen Toten auf Facebook zu suchen? Mir ist das auch erst heute eingefallen, als ich im Zug von allen möglichen sozialen Netzwerken geträumt habe. Bescheuerter Traum. Aber egal, immerhin hat er mich auf diese Idee gebracht." Mit diesen Worten entsperrte er sein Handy und öffnete die Facebook-App. Es dauerte ziemlich lange, bis sie sich öffnete, aber als es soweit war, tippte Emre ohne weitere Umschweife auf die Suchleiste.

"Hast du einen vollständigen Namen für mich?", erkundigte er sich. Ich musste nicht lange nachdenken.

"Brandon Miller."

Emre gab den Namen ein und ich achtete auf die aufploppenden Profilbilder. Doch diejenigen, die eines hatten, sahen alle nicht so aus wie der Brandon, den ich kannte. Zum Schluss gab es nur drei Brandon Millers aus Deutschland, einer von ihnen ohne Profilbild.

"Klick mal den an.", deutete ich auf das Profil ohne Bild. Emre tippte auf seinen Bildschirm und das Profil lud - aufgrund der schlechten Internetverbindung - eher langsam.

"Der letzte Eintrag ist fast ein Jahr her.", stellte Emre fest, als die Seite endlich geladen hatte.

"Brandon Miller gefällt 'The Big Bang Theory'", las ich vor. "Naja, wem nicht."

"Das ist er nicht, oder?", vermutete Emre.

"Guck mal, wann er geboren ist."

"1996, passt das?"

"Ja, so steht es auch auf seinem Grabstein. Verdammt, das kann doch nicht alles sein, oder? Vielleicht gab es seit seinem Tod keine neuen Einträge mehr... Aktualisier nochmal!", wies ich ihn an. Emre zog die Seite nach unten und ein kleiner Ladekreis erschien.

"Guck, jetzt steht da was!", rief ich aufgeregt. Emre drückte auf den Eintrag.

"Auch wenn seine Eltern oder sonst wer alle Einträge löschen und die Nutzer blockieren, die Menschen sollen ruhig wissen, welchem Monster diese Seite gehört. Brandon, der Tod war noch zu gut für dich, du hast viel Schlimmeres verdient."

Verunsichert tauschten Emre und ich Blicke aus, bevor er bei dem zugefügten Video auf Play drückte. Es handelte sich um einen Bericht der Tagesschau, der Bilder von Verletzten zeigte. Das Video begann automatisch bei Minute 3:27.

"... Bei dem 16 Menschen getötet und sieben weitere schwer verletzt wurden. Laut Zeugenaussagen handelt es sich bei dem Täter um den 21-jährigen Brandon M. Tatmotive sind noch unklar, doch Freunde und Familienmitglieder vermuten, dass er den Amoklauf aufgrund von Diskriminierung durch seine Kollegen..." Emre pausierte das Video und starrte ausdruckslos auf den Bildschirm. Ein verpixeltes Bild von Brandon wurde gezeigt und ich sah entsetzt zu Emre auf.

"Ist er das?", fragte er mich.

"Ja.", flüsterte ich. Ich konnte ihn kaum auf dem Bild erkennen, aber es war fast so, als hätten wir das letzte Puzzleteil eingefügt und erst jetzt könnte man das Gesamtbild erkennen.

"Bist du sicher?"

"Ja. Ja, das ist er. Das ist seine Haarfarbe, seine Hautfarbe und es ist auch eins zu eins die Kleidung, die er heute noch trägt. So ist er gestorben.", keuchte ich geschockt. "Er ist ein Mörder."

"Und so wie es aussieht, möchte er zum Wiederholungstäter werden.", knurrte Emre. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und betete mir selbst vor, dass das alles nicht wahr sein konnte. Durfte es einfach nicht. Ich konnte doch nicht ernsthaft von einem Untoten Amokattentäter, der sich unglücklicherweise in mich verliebt hatte, gejagt werden? Das klang wie der Plot eines Direkt-zu-DVD-Films.

"Bree?" Beim Klang von Emres Stimme gefror mir das Blut in den Adern. Er hörte sich so an, als hätte er das Tor zur Hölle geöffnet.

"Was denn?", fragte ich mit zittriger Stimme, jedoch ohne aufzuschauen.

"Hat Brandon blaue Augen?"

Überrascht sah ich jetzt doch auf und guckte ihn schockiert an. "Wieso... Woher weißt du das?" Wie durch das Unheil angezogen wandte ich meinen Kopf zum Fenster.

Und erstarrte zu Eis.

"Ja, Emre. Das ist Brandon."

Das Mädchen, das mit den Toten sprachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt