Am nächsten Morgen standen wir völlig übermüdet am Bahnhof und warteten auf unseren Zug. Aufgrund der langen Strecke war eine Nachtfahrt mit dabei und trotzdem mussten wir in Budapest umsteigen. Es machte mir nichts aus, einen ungarischen Bahnhof zu sehen und ich konnte von Glück reden, überhaupt noch ein Ticket auf die letzte Minute bekommen zu haben. Aber ein Flug wäre garantiert einfacher gewesen. Vermutlich sogar billiger.
Doch ich wollte unbedingt bei Emre bleiben und der Zug fuhr bereits in den Bahnhof ein. Es war kein schöner Zug, wie ich feststellen musste; eher sah er aus wie aus den Fünfzigern entsprungen. Ich griff nach meinem Koffer und zog ihn gemeinsam mit Familie Zlatauneanu zu den sich langsam öffnenden Zugtüren. Aussteigen wollte niemand, also konnten wir direkt einsteigen. Es gab keine sechs Plätze mehr, die direkt bei einander waren, also setzten Emre und ich uns auf einen Zweierplatz am Ende des Abteils. Auch Emres Eltern setzten sich in eine Reihe, Anda und Emilian fanden Platz in einer Vierersitzgruppe, in der bereits eine ältere, mürrisch guckende Frau saß.
Unsere kleineren Taschen hob Emre auf die Gepäckablage über unseren Köpfen, mein Koffer jedoch musste auf dem Boden stehen bleiben. Die Sitze fühlten sich nicht so an, als könnte man mehrere Stunden auf ihnen sitzen, aber ich nahm mein Schicksal schweigend hin. Ich war ohnehin viel zu fertig, um mich tatsächlich darüber zu ärgern, denn in der letzten Nacht hatte ich mal wieder kein Auge zugetan. Ich hatte bei Emre übernachtet und fast die ganze Nacht mit ihm durchgequatscht, bis er irgendwann gegen fünf Uhr morgens eingeschlafen ist. Danach versuchte auch ich zu schlafen, doch ich hatte zu große Angst, dass Brandon jeden Moment vor mir stehen könnte.
Also fühlten sich selbst diese Sitze federweich und angenehm an. Als der Zug anfuhr, lehnte ich meinen Kopf gegen Emres Schulter und schloss meine Augen. Doch obwohl ich vollkommen erschöpft war, blieb ich wach. Ich spürte jedes Rütteln des Zuges und hörte jedes noch so leise Gespräch. Irgendwann gab ich den Versuch zu schlafen auf und öffnete meine Augen wieder einen Spalt breit.
"Wo sind wir?", wandte ich mich leise flüsternd an meinen Freund.
"Immer noch in Berlin.", gab er ebenso leise zurück. Dabei strich er sanft über meinen Handrücken, woraufhin ich meine Hand umdrehte und seine ergriff.
"Was sollen wir nur die ganzen Stunden lang machen?", murmelte ich.
"Wir überlegen uns einen Angriffsplan.", hörte ich ihn schmunzeln.
"Klar. Die anderen Passagiere werden uns für irre halten."
"Irgendwann müssen wir aber trotzdem darüber reden."
"Ich weiß.", seufzte ich. "Aber dazu werden wir bei deiner Oma bestimmt auch noch genug Zeit haben. Oder ist die Stadt so interessant, dass wir die ganzen Ferien brauchen, um sie zu besichtigen?"
"Nein, nicht wirklich. Allerdings war ich auch schon oft da, vielleicht findest du es ja spannender dort."
Da fiel mir etwas Entscheidendes auf. Ich hatte keine Ahnung, wo wir überhaupt hinfuhren. Ich meine, auf meinem Ticket stand 'Constanta', aber es war ja nicht so, als hätte ich eine Landkarte von Rumänien in meinem Kopf. Also sah ich zu Emre auf und beschloss, ihn auszufragen.
"Wo fahren wir eigentlich hin?"
"Meine Großmutter Ilena wohnt in Konstanza, einer Stadt am Schwarzen Meer. Es gibt dort einige Museen, ein Aquarium, eine Basilika und eine Moschee... Achja, einen Leuchtturm gibt es auch... Aber eigentlich ist die Stadt nicht wirklich sehenswert. Wir fahren da eben nur einmal im Jahr um diese Zeit hin, weil dann fast die ganze Familie da ist. Und Ilena hat das größte Haus."
"Du nennst deine Oma bei ihrem Vornamen?", wunderte ich mich.
"Klar. Wie nennst du denn deine Großeltern?", antwortete er verblüfft. Ich hob eine Augenbraue und sah ihn skeptisch an.
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Das Mädchen, das mit den Toten sprach
FantasySeit sie vor drei Jahren versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, kann Bree die Toten sehen und sich sogar mit ihnen verständigen. Das führt dazu, dass für sie eine eigenartige Faszination für den Tod entwickelt und mehr verstorbene als lebendige F...