Wie ein Alien

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Wir überquerten die Schwelle zum Wohnzimmer und sofort richteten sich mindestens zehn Augenpaare auf uns. An einem riesigen Esstisch verteilt saßen Männer und Frauen aller Altersklassen. Nahezu gleichzeitig brüllten sie Begrüßungen und Emres oder Andas Namen. Die Erste, die aufstand, um uns zu begrüßen, war eine ältere Dame mit funkelnden Augen und langen, silbrig-grauen Haaren. Sie begrüßte zuerst meine Begleiter, bevor sie sich an mich wendete.

"Și cine ești tu?", fragte sie mich mit gehobenen Brauen. Ich sah hilflos zu Emre, doch er und seine Schwester reichten gerade der gesamten Familie die Hände. (Und wer bist du?)

"Numele meu este Bree. Eu sunt prietenul lui Emre.", stellte ich mich vor, in der Hoffnung, dass sie mich verstehen könnte. (Ich heiße Bree. Ich bin die Freundin von Emre.)

Zu meiner Erleichterung lächelte sie verständnisvoll und tätschelte wohlwollend meine Wange. "Ilena.", erklärte sie mir kurz und ich begriff, dass es sich um Emres Großmutter handelte. Sie begriff anscheinend, dass mein Rumänisch keine richtige Unterhaltung erlauben würde und stellte keine weiteren Fragen. Inzwischen hatten Emre und Anda ihre Begrüßungsrunde fertig gedreht und nahmen mich in die Mitte, um mich ebenfalls mit allen bekannt zu machen.

Sie begannen bei Aden, Ilenas älterem Bruder und seiner Frau Norina. Ihr einziges Kind hatte nicht kommen können.

Als nächstes wurde mir Ilenas jüngste Tochter Marina vorgestellt, die in Ungarn lebte und weder Mann noch Kinder hatte. Allerdings verriet Emre mir, dass sie seit einiger Zeit in einer Beziehung war.

Ilena hatte neben Marina und Emres Mutter Daniela noch eine weitere Tochter namens Camelia und einen einzigen Sohn, der nach seinem bereits verstorbenen Vater Adrian benannt worden war.

Adrian war als einziges der vier Kinder in Rumänien geblieben. Er und seine Frau Liane hatten zwei Kinder - Felix und Mirela - die ungefähr in Emres und meinem Alter waren.

Camelia war als Älteste nach Polen ausgewandert und heiratete dort den trinkfesten Tomek. Er schien die ganze Zeit über zu lachen und wirkte mit seiner offenen Art sehr freundlich. Ihre Kinder waren schon erwachsen und eigentlich ausgezogen, aber sowohl Anka als auch Leszek waren momentan zu Besuch. Und Ankas kleine Familie kannte ich ja bereits.

Nur fünf Minuten später hatte ich alle Namen wieder vergessen.

Ich saß, umringt von fremden, lauten Menschen an einem überfüllten Esszimmertisch, an dem immer wieder Essen und Getränke hin- und hergereicht wurden. Alle redeten im schnellen Rumänisch durcheinander und obwohl Emre immer wieder mit mir sprach, fühlte ich mich wie eine Aussätzige. Ich nippte langsam an meinem Wasser und betrachtete die verschiedenen Leute, während ich versuchte, mir ihre Namen ins Gedächtnis zu rufen. Ich sah zu den beiden anderen Jugendlichen, die die ganze Zeit auf ihren Handys tippten und nur ganz selten desinteressiert aufsahen. Ich hatte mir nur Mirelas Namen gemerkt, da sie echt eine Jahrhundertflappe zog.

Aiden rannte die ganze Zeit um den Tisch herum und James versuchte eher halbherzig, ihn zur Ruhe zu bringen. Irgendwann meinte Anka, er müsse ins Bett, und James sah erleichtert aus, während Aiden bockig schmollte.

Ich nutzte die plötzlich entstandene Aufbruchstimmung und lehnte mich zu Emre. "Ich geh mal eben aufs Klo, ja?", behauptete ich. Es entsprach nicht unbedingt der Wahrheit, aber ich brauchte dringend eine Pause von dem ganzen Trubel.

Er nickte verständnisvoll und schob dann seinen Stuhl zurück.

"Oh, du musst nicht mitkommen!", wehrte ich ab, doch er lachte nur.

"Wenn ich dir nicht den Weg zeige, wirst du das Bad niemals finden.", erklärte er mir grinsend. "Außerdem kann ich dann schon mal unser Gepäck auf unser Zimmer bringen."

Das Mädchen, das mit den Toten sprachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt