Waldkind wird neugeboren

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Was bildeten die sich bitte ein!
Wütend stapfte ich den schmalen Pfad entlang, der in den Wald führte.
Warum glaubten diese verdammten Kerle, mich herumkommandieren zu können?! Ich war doch kein kleines dummes Ding! Ich war eine junge Frau, ich hatte meinen eigenen Kopf und richtete mich sicher nicht nach den Befehlen irgendwelcher dahergelaufener Typen die meinten mich beschützen zu müssen. War das nicht logisch? Selbst wenn einer der Männer mein Vater sein mochte - auf solche Forderungen pfiff ich. Eigentlich wusste Dad das. Aber er hatte mich ja schon mehrere Male enttäuscht.
Augenblicklich verwandelte sich mein Zorn in brodelte Wut.
Endlich erreichte ich den Wald und tauchte froh über den Sichtschutz ein in den kühlen Schatten.
Erleichtert schloss ich kurz die Augen und atmete reflexartig tief ein. Die saubere Luft war ich eigentlich gar nicht gewohnt, in Hamburg gab es lediglich Stadtparks. Echte, unberührte Wälder waren sehr selten. Da sich mein früherer Alltag immer zwischen Wolkenkratzern und Einkaufsstraßen abgespielt hatte, ich aber viel zu beschäftigt damit gewesen war mich über unwichtige Kleinigkeiten des täglichen Lebens aufzuregen, war mir nichtmal aufgefallen wie weit ich mich bereits von der Natur entfernt hatte.
Ich blieb stehen.
Öffnete langsam die Augen.
Und sah nach oben.
Die Baumkronen über mir peitschten im kühlen Spätherbstwind hin und her. Es sah wunderschön aus.
Mein Herzschlag passte sich dem Knarren der alten Weiden an, das mich einlullte, zusammen mit all den anderen Geräuschen des Waldes.
In weniger als fünf Minuten hatte ich vergessen, warum ich wütend war.
Für kurze Zeit fühlte ich mich geborgen und ruhig, und mir schien es als ob ich noch nie lebendiger gewesen wäre. Meine Finger kribbelten und ich nahm jedes Geräusch wahr. Ich spürte jede Faser meines Körpers, fühlte Energie und alles was sie belebte.
Es war berauschend.

"Mona?" Es fühlte sich an als ob mich ein Blitz durchfahren würde. Stille wurde durchschritten und die merkwürdige Trance, in die ich gefallen war, verflüchtigte sich. Meine gerade noch entspannte Körperhaltung versteifte sich.
Ich wollte sprechen. Doch mein Hals war zu trocken. Plötzlich legten sich eine Hand auf meine Schulter. Mir entwich ein heiserer Aufschrei, ich wirbelte um mich selbst herum und ... stand Fin gegenüber. Das braune Haar fiel ihm verwuschelt in die Stirn und seine Brust hob sich unter schnellen Atemzügen. Schweiß bedeckte seinen Hals und glänzte im Sonnenlicht. Verdammt ... Sein intensiver Blick heftete sich an mir fest. "Tut mir leid.", würgte ich angestrengt hervor und wich von Fin zurück. "Schon okay. Ich hab dich ja erschreckt.", beschwichtigte er mich mit tiefer Stimme. Er hob die Hände. "Ich geb' s ja zu, ich hab nicht nachgedacht und angefangen dich herum zu kommandieren. Ich wollte dich nicht aufregen. Jetzt komm bitte mit zurück zum Haus." Ich sah Fin in die Augen. Etwas stieß mich von ihm ab, und dennoch wollte ich zu ihm gehen. Unentschlossen presste ich die Lippen zusammen. Was war nur los mit mir? "Ich ..." Ein ohrenbetäubendes Kreischen unterbrach mich. Noch bevor der Schrei verklungen war packte mich Fin am Arm und zog mich von der Lichtung hinein ins Unterholz. Hinter einem hohen Gebüsch ging Fin in die Knie und zog mich zu sich hinunter. Das Laub unter meinen Knien raschelte und der junge Mann neben mir atmete sehr schnell. Nur wenige Zentimeter trennten uns. "Was soll das?", zischte ich. Fin sah mich an. Etwas Dunkles flammte in seinen Augen auf. Es war animalisch und wild. Eben holte er Luft um etwas zu erwidern, da erbebte der Boden. Fins Hand legte sich vor meinen Mund. Ich wollte ihn bereits beißen und anschließend in die Schranken weisen, da erreichte uns das Beben und Hufgetrappel klang vom Pfad zu uns herüber. Hufschläge und laut johlende Männerstimmen, genau genommen. Ich riss die Augen ungläubig auf. Obwohl ich nicht viel durch die Zweige hindurch erkennen konnte, wollte mein Sehsinn mir weismachen, Männer mit dem Oberkörper eines Menschen, und den Beinen eines Pferdes gesehen zu haben.
Ich hatte etwas gesehen, das absolut nicht menschlich war.

Woodchild  -  BEENDET Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt