Der Saum des Mantels weht um meine Beine, ich trage das Haar zusammengebunden im Nacken, es ist beinahe wieder braun, so lange habe ich es nicht mehr nachgefärbt. Ich bin zum ersten mal seit fast einem Jahr wieder in Norwegen, in der kleinen Stadt, in der Dad, Fin, Q und Oda, Jenny und Cat noch immer leben. Es hat sich nicht viel verändert seit ich zurück nach Deutschland gegangen und fürs erste bei Tina und ihrer Mum eingezogen bin. Paps fühlt sich hier immer noch besser, obwohl ihm die Ereignisse des Morgens, an dem Charlie starb, noch lange bis in seine Träume verfolgten. Ich bin heute noch froh dass ihm die Blüter erlaubten hier leben zu bleiben - schließlich hatte er niemanden absichtlich erschossen. Er ist sogar mitlerweile sehr bekannt im Rad und darf mit ihnen die Entscheidungen treffen - auf Finnians Wunsch hin. Dad vertritt die Menschen. Diese wissen zwar noch immer nichts von den Tierblütern, trotzdem ist es besser so. Ich bin stolz auf meinen Vater, auch wenn ich es ihm anfangs nicht verzeihen konnte dass er mit mir nicht über das Gewehr sprechen wollte. Es stellte sich heraus, das der Kollege, der ihn auf die Idee mit dem Schießen brachte, kein Geringerer war als Kristoff. Er arbeitete in der selben Firma. Ich war froh, dass er nun weit weg war.
Außerdem hat mir Paps endlich gestanden, dass er das Geheimnis meiner Mutter kannte. Allerdings auch nur flüchtig. In den Jahren nach ihrem Tod beschloss er, die eigentlichen Tatsachen als Märchen abzutun. Er hatte das Magische schlicht und ergreifend aus seinem Leben verdrängt. Und doch sehnte er sie sich zurück - und bekam sie mit mir und diesem Ort.
Dieser Ort. Ich möchte bald wieder hier weg. Jetzt weiß ich, dass ich damals das Richtige mit Fin getan habe. Ich wäre hier zugrunde gegangen, das merke ich jetzt deutlich.
Ich ziehe den Brief aus meiner Tasche, lese ihn erneut, obwohl ich ihn bereits auswendig kenne, lese ihn dem vor, der ihn einst schrieb. Ob Charlie mich hören kann? Jetzt, nach dieser langen Zeit, sage ich endlich alles was ich ihm nie sagen konnte. "Hey. Charlie, ich bins. Hör zu, wenn du kannst, okay? Du hast mal geschrieben, dass Fin der Richtige für mich ist. Du hast Recht gehabt. Er ist mein bester Freund. Aber mehr sollte daraus nie werden, das weiß ich jetzt. Ich glaube, ich werde auch nie mehr einen finden, der sich richtig anfühlt. Weil ich ..." Mir geht der Atem aus. Ich mache einen Rückzieher vor den Worten, vor denen ich angst habe. "Weil ich nachgeforscht hab. Ich habe Fin nach deinem alten Wohnort, deiner damaligen Adresse gefragt. Ich bin nach Maine geflogen, und ich hab deine Mutter kennengelernt. Als ich ihr erzählte dass du ... nicht mehr da bist, ist sie mir um den Hals gefallen und hat geweint. Sie sagte in ziemlich schnellem Englisch, dass ihr alles unendlich leidtut. Und dass sie dich sofort wieder zurückholen wollte als sie dich damals rauswarf. Du siehst ihr wirklich ähnlich, weißt du das? Jedenfalls hat sie mich eingeladen und ... als sie mich fragte, woher ich dich kenne ..." Ich schlucke "Antwortete ich, dass ich deine Freundin bin. Dass wir ein Paar waren. Das klingt jetzt vielleicht etwas überstürzt , aber ich musste es sagen. Weil ..." Erneut halte ich den Atem an. Doch dieses Mal sage ich es zum ersten Mal laut.
"Weil ich dich liebe, Charlie."
Kaum sind die Worte raus, breche ich vor dem großen, dunklen Grabstein zusammen. Es ist ganz früh am morgen, ungefähr die gleiche Zeit, zu der du mich noch in den Armen getragen hast, damals. Was gäbe ich dafür, dich jetzt bei mir zu haben, nur ganz kurz vielleicht. Oder für immer. Ich würde alles aufgeben. Nimm, was du willst, Tod. Nur gib ihn mir zurück. Ein Windhauch zerzaust mein Haar, haucht mir einen kühlen Kuss auf die Lippen, und als ich die Augen blinzelnd öffne kniet ein großer, wunderschöner Mann vor mir, umfasst mein Gesicht mit beiden Händen wie ich einst seins und küsst mich erneut. Ich bin völlig überrumpelt, kann es nicht fassen, nicht denken. Als er sich von mir löst, schaue ich wie ein Boot. Er lacht auf und mein Herz flattert. "Charlie?" Ich taste nach seinen Händen, und tatsächlich ist er da. Aus Fleisch und Blut. Er ist am Leben. "Ganz schön mutig, einen Deal mit dem Tod einzugeben, Kleines." Mir klappt die Kinnlade. "Was? Du meinst, dass er alles nehmen soll, nur damit ich dich wieder bekomme? Das hat funktioniert?" Jetzt lächelt er ein wenig traurig. "Er hat mich dir gegeben, aber nur mein menschliches Ich. Die Wolfsgestalt, in der ich verwundet wurde, ist für immer verloren. Und damit der Tod nicht um ein halbes Leben betrogen wird, hast du ihm gerade deine Rehgestalt angeboten. Und er hat sie dankend entgegen genommen." Das schafft mich jetzt aber wirklich. Ich kippe hinten über auf meinen Hosenboden. Er sieht mich unsicher an. "Bereust du es?" Bei diesen Worten bin ich selbst schneller als mein altes Blüter-Ich auf den Beinen. "Bist du verrückt?! Ich würd das ganze tausendmal tun, wenn ich dich dadurch nur einmal zurückbekäme." Die Leidenschaft in meiner Stimme bringt mich durcheinander, ich bin etwas verlegen, lache, dann küsse ich ihn.

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Woodchild - BEENDET
FantasySimona Frey ist gerade dabei, ihren Platz im Leben zu finden, und hat es schon fast geschafft. Aber dann - kompletter Umbruch. Sie und ihr Vater ziehen nach Norwegen. Anfangs ist Mona alles andere als begeistert. Doch dann lernt sie Leute kennen, d...