Ich stand im weichen Moos, die Augen geschlossen, und trotzdem tropften Tränen von meinen Wangen. In den Händen hielt ich einen Brief. Er trug eine kantige, harte Handschrift. Es war die von Tyrell.
An ein Rehblut
Ich weiß, dass du mich nie mochtest, Mona. Ich weiß, dass ich mir deine Freundschaft auch nicht verdient habe. Ich verhalte mich wie ein Idiot, wenn ich Menschen treffe, die mich begeistern. Ja, so kann man das sagen. Ich möchte nur, dass du weißt: Damals auf der Sonnwendfeier habe ich dir kein Haar gekrümmt. Mir ist klar, wie es ausgesehen haben muss, und ich habe Finnian dort zur Weißglut bringen wollen - was wunderbar funktioniert hat. Aber das war es dann doch irgendwie nicht, was ich mir erhofft hatte. Frag mich bitte nicht, wenn du diesen Brief gelesen hast, was meine eigentliche Absicht war. Vielleicht wollte ich dich einfach nur nochmal von Nahem sehen. Das klingt lächerlich, aber es ist wahr. Du warst benebelt vom Feuer, von den Menschen, und ich wollte, dass du dich beruhigst. Ich glaube, dabei bin ich dir zu nah getreten. Das tut mir leid. Du glaubst gar nicht, was mir alles leid tut, Kleine. Auch die Sache bei eurem Einzug. Du bist mehr als eine Schnecke, aber das weißt du natürlich. Lass dir nie etwas anderes einreden. Ich hab Fehler gemacht. Aber ich bin selbst schuld. Ein Feigling. Ich bin sogar zu feige, dir das alles persönlich zu sagen. Das sagt doch schon alles, oder? Du hast mit Finnian eine gute Wahl getroffen. Er wird dich beschützen, wenn ich es versäume. Er hat dich verdient, ich trete meinen nicht gerade geschickten Rückzug an. So gehört sich das - der Alpha ist nunmal der Chef.
Jedenfalls - Ich hoffe, im Bunker hast du wenigstens ein bisschen was von mir kennengelernt, das man symphatisch finden kann. Ich hab da nämlich schon lang kein Gefühl mehr dafür.
Lach nicht über mich, wenn du mich das nächste Mal siehst, tu einfach so als hättest du diesen Brief nie bekommen. Einverstanden?Charlie
Der Brief war aufgetaucht als sie ihn aus dem Wald trugen. Einer der Wolfblüter überreichte ihn mir, da ich das einzige Rehblut war, as er kannte. Die Unterschrift hatte mich irritiert. Als ich Fin danach fragte, erklärte er mir dass Tyrell sein Familienname gewesen war. Mit einem Mal begriff ich, dass ich dort im Bunker Charlie, und nicht Tyrell kennengelernt hatte. Nun las ich die vielen Zeilen erneut. Einige davon waren durchgestrichen, umformuliert, an die Seiten geschrieben. Es war der schönste Liebesbrief, den ich je bekommen hatte. Ich weiß, dass es schrecklich naiv klingt, aber ich sah endlich ein, dass ich mich in den wenigen Stunden unter der Erde in Charlie verliebt hatte. Etwas verkrampfte sich in meiner Brust. Erneut tropften Tränen auf das Papier, die Tinte war schon ein wenig verwischt.
Lach nicht über mich
Tu einfach so, als hättest du den Brief nie bekommen.
Seine Worte klangen in meinem Kopf nach als hätte er sie zu mir gesagt. Ich solle nicht lachen. Wie könnte ich darüber lachen?Du hast mit Finnian eine gute Wahl getroffen. Er wird dich beschützen, wenn ich es versäume.
Und doch war nicht Fin es gewesen, der mich vor der Kugel bewahrte. Meine Lippe zitterte, ich starrte hinauf in die Baumwipfel. Gar nichts hatte er versäumt. Nur ich war zu langsam gewesen. Mit meiner kleinen, dummen Erkenntnis. Ich weiß, dass ich zurück zum Haus, zurück zu meinem Vater, zu Fin und meinen Freunden gehen sollte. Vorallem zu Fin. Er ist unfair ihm gegenüber sich in einen Toten zu verlieben. Aber das Herz geht wege, da könnte der Verstand nie folgen, oder? Trotzdem bin ich ratlos. Niemand trauert so um Charlie wie ich. Es hängt düstere Stimmung über der Stadt, aber die Leute mochten ihn sowieso nicht. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich mochte ihn doch selbst nicht. Ich rede mir ein, dass Fin der Richtige ist. Dass er ebenfalls sehr hart, vielleicht noch hundertmal härter für mich gekämpft hat. Aber ich glaube es trotzdem nicht.
Ich falte den Brief, stecke ihn in meine Jackentasche und gehe durch den tiefen Schnee zurück zum Adlerhorst. Oder eigentlich Falkennest. Quentins Erklärung, wieso er seine Blütergestalt verabscheut, hat mit seiner Familie zutun. Sie war schon immer abgestempelt als nichtsnutzig, wurde missachtet und schließlich verstoßen. Quentins Vater stammt vom ehemaligen Bürgermeister der Stadt ab - und somit lebten die Rilkers lange im Adlerhorst. Er kennt sich besser in meinem Zimmer aus als ich selbst. Dennoch gilt er als Außenseiter - außer bei Jenny und mir. Jenny, die liebe, coole Jenny, die nun hinter das große Geheimnis geschlüpft ist, sich alles von uns erklären ließ und letztendlich völlig ausgeflippt ist vor Begeisterung. Jedes Mal, wenn sie in der Schule jemanden sah, den sie kannte, fragte sie mich oder Q nach einer möglichen Blüterherkunft. Wenigstens ist zwischen ihr und Q alles wieder normal. Nachdem er ihr seine Gefühle für sie - und ihm anderweitige Empfindungen Cat gegenüber (die übrigens ein Katzenblut ist, Überraschung!) gestanden hatte, war es kurz komisch geworden. Trotzdem waren sie super zusammen - wie beste Freunde eben. Und Cat wettet darauf, bald Oda und Q verkuppeln zu können. Ich lächelte müde. Es war schon, dass es für alle so gut ausgegangen war. Sogar Artemis uns seine Bande waren glimpflich davon gekommen - nur waren er, Lucinda und Kristoff in den hohen Norden verbannt worden, solange bis die Gletscher dort schmolzen. So hieß es jedenfalls laut Fin, der einen Kriesenrat der Blüter einberufen hatte.
Auf dem Weg zum Horst stieß Luk zu mir. Er war der einzige, den ich länger als ein paar Minuten ertrug. "Hey Süße. Alles klar soweit?" Ich sah zu ihm auf. "Ganz ehrlich? Nicht so ganz." Seine Miene wurde weich. "Wie wär's, wenn du es Fin einfach sagst?" Ich stuzte. "Was?" Er lächelte leicht. "Du bist ein offenes Buch. Und ich glaube, er weiß es schon längst. Aber er will es von dir hören, Mona." Damit ließ er mich stehen. Ich stand da wie eine Statue. War ich soweit? Konnte ich Fin die Wahrheit sagen? Ich straffte letztendlich die Schultern und betrat die Küche. Alle saßen um den runden Tisch herum und sprachen - auch über Charlies Beerdigung. Sein Tod war gerademal drei Tage her. Jetzt sahen alle zu mir auf. Fin erwiderte meinen Blick geradeheraus, ruhig und klar. Ich schluckte. "Hey. Ähm. Hättest du kurz Zeit?" Ich deutete an die Decke, als Zeichen dass ich oben sprechen wollte. Fin stellte eine Kaffeetasse weg. "Klar doch." Wir verließen die Küche, er folgte mir in mein Zimmer. Dort angekommen legte ich meinen Mantel ab, ließ die Hand aber auf der Tasche mit dem Brief. Fin setzte sich neben mich. Ich atmete tief durch, dann begann ich zu sprechen. "Fin ich ... bin sehr, sehr durcheinander. Und ich hab so das Gefühl, dass ich ... ich bin nicht mehr die von vor fünf Tagen. Es ist zu viel passiert, was ich einfach nicht übergehen kann." Ich sah ihn an. "Ich ... ich meine ..." Jetzt brach meine Stimme. Verdammt, ich hatte doch gefasst wirken wollen. Und jetzt begann ich zu heulen? Krokodilstränen, mehr waren sie für ihn wahrscheinlich nicht. Doch mal wieder überraschte er mich. Plötzlich lag ich in einer warmen Umarmung. Er strich mir über das ausgewaschene pinke Haar. Jetzt begann ich richtig zu weinen. Ich vergrub mein Gesicht an Fins Schulter. "Es tut mir leid, Fin. So leid. Ich wollte dich nie so verletzen, ich habs wirklich versucht, ich weiß nicht, was in mir drin kaputt ist, aber ich hab das Gefühl, ich kann es nie mehr wieder richtig reparieren." Ich schluchzte, erzählte weiter. Er verstand wahrscheinlich kein Wort. Trotzdem hielt er mich eine Armlänge von sich als ich geendet hatte, wischte mir die Tränen von den Wangen und lächelte vorsichtig. "Hey, Mona. Pinkypie." Bei dem Namen bröckelte das Eis um meinem Herzen etwas. Ich sah Fin an. "Du trägst für nichts von dem hier die Schuld. Das Leben baut uns die unmöglichsten Hindernisse auf unseren Weg. Du wirst nicht alle mühelos umgehen können. Aber bei dem hier kann ich es dir von meiner Seite aus leicht machen." Er strich mir das Haar zurück. "Du hast deine Gründe, Süße, und ich werd es dir nicht übelnehmen, egal, was du letztendlich tust. Wir sind Freunde, das ist doch klar, oder? Nur weil deine Gefühle sich ändern, muss ich nicht gleich beleidigt spielen. Ich bin da für dich, wenn du mich brauchst, und du kannst selbst entscheiden auf welche Weise. Ja?" Ich seufzte tief, und eine mächtige Last fiel von meinen Schultern. "Wie hab ich dich nur verdient?", rotzte ich gerührt und umarmte ihn nochmal ganz fest.

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Woodchild - BEENDET
FantasySimona Frey ist gerade dabei, ihren Platz im Leben zu finden, und hat es schon fast geschafft. Aber dann - kompletter Umbruch. Sie und ihr Vater ziehen nach Norwegen. Anfangs ist Mona alles andere als begeistert. Doch dann lernt sie Leute kennen, d...