Kapitel 6 - Ich dich auch, Lou.

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| Ich dich auch, Lou. |

Mein Kopf dröhnte und ich spürte das Pochen, welches über meinen ganzen Körper herrschte. Ich versuchte mich zu bewegen, aber alles was ich machte, scheiterte schmerzend. Ich hob langsam die Hand und schob eine verklebte Locke von meiner Stirn, ehe ich meine Augen einen Schlitz öffnete. Soweit ich sehen konnte, waren die Wände grün und von der Einrichtung eher zurückhaltend und schlicht. Das war wahrscheinlich das Krankenzimmer, da auf allen Tischen und Pulten Medizin gehäuft war.

,, Wie ich sehe, sind Sie wach."

Eine Frau, mittleren Alters und einem kurzen, weißem Kittel, betrat den Raum und lächelte mich an. ,, Ich bin Mrs. Marten, nenn mich aber bitte Alè." Ich nickte kurz. ,, Harry." ,,So, Harry. Wie geht's dir? Glaubst du, du kannst dich beim Unterricht anschließen?" Nein, alles schmerzte und wäre hier irgendwo ein Eimer, würde ich mich jetzt übergeben, da diese Übelkeit schrecklich war.

,, Ja, ich glaube schon." Sie schaute mich skeptisch an. nickte aber und ließ mich aufstehen. ,, Bist du nicht ein Freund von Judeikas?" ,,Ja, Ma'am." Sie grinste. ,, Er hat mir von dir erzählt." Ich sah sie verwirrt an. ,, Ich bin seine Tante." Ich nickte verstehend und verabschiedete mich von ihr, ehe ich in das Klassenzimmer ging, da wir jetzt, soweit ich weiß, Englisch hatten. Ich konnte mich ganz gut aufrecht halten, dafür, dass ich grademin Ohnmacht war.

Aber wieso nochmal? Das letzte, an was ich mich erinnerte, war, als Louis reinkam. Ich verschnellerte meine Schritte und kam im Zimmer an. Ich klopfte zweimal an und ging nach einem ,,Herein" hinein. Ich wurde von allen Ecken und Seiten angestarrt, als ich mich zu meinem Platz begab. Wahrscheinlich hatten alle davon mitbekommen. Ich saß neben Nick und lächelte ihn schwach an. Er lächelte mich auch kurz an und widmete sich den Aufgaben. Ich nahm mein Heft raus und tat das Gleiche.

Es klingelte zum Schulschluss und alle packten ihre Sachen ein. Ich nahm meine Tasche und ging aus dem Raum. ,, Ey, Harry, wart' mal." Ich drehte mich um und sah Niall und Jude an. ,, Wie geht's? Du warst echt lange weg, wir haben uns Sorgen gemacht!" Ich seufzte. ,, Sorry, wirklich, können wir jetzt aber endlich nach Hause? Ich bin müde und will ins Bett." Beide nickten verstehend und gingen mir nach, ehe Jude zu seinem Auto ging. ,, Was ist eigentlich passiert?" ,, Hatte am Wochenende einen kleinen Unfall. Ich hätte vielleicht zu Hause bleiben sollen, aber es geht."

Er hob eine Braue, fragte aber nicht weiter nach. ,, Was hast du eigentlich Louis erzählt? Er ist völlig zerstört von dir weggegangen." Ich schluckte. Was hat er denn damit zutun? ,,Wieso weggegangen?" ,,Er ist zu dir gegangen und wollte dir helfen." Er wollte mir helfen? Ich fing an ungewollt zu grinsen und zog an meiner Jacke rum. Er ist wieder von mir weggegangen, wieso freute ich mich dann? ,,Und wieso seid ihr nicht gekommen?", fragte ich Niall, um die Zeit zu überbrücken. ,,Wir dachten, du verarscht uns. Als Louis dann weggegangen war, haben es auch die meisten geglaubt, doch als du nicht aufgestanden bist, sind wir gekommen und sahen, dass du bewusstlos warst." ,,Mhm."

Ich stieg vom Bus aus und ging gradewegs nach Hause. ,, Hey, Harry!" Ich drehte mich um und sah meine Mutter aus dem Auto steigen mit zwei Tüten in der Hand. Sie machte die Tür auf und stürmte in die Küche. ,, Wieso so hektisch?", rief ich ihr rüber, als ich die Tür hinter mir schloss. ,, Jay und ihr Mann kommen rüber." Ich seufzte. ,, Mit den Kindern?" ,,Jaa." Jap, das könnte spaßig werden. Louis, welcher mich sowieso ignorierte, zwei Mädchen, die mit mir flirteten und die zwei Zwillinge, die mehr als laut sind. Und nicht zu vergessen, der gruselige Stiefvater. ,, Hilfst du mir beim Kochen?" Ich seufzte und ging zu ihr in die Küche. Ich machte größtenteils nur das Schneiden des Gemüses. ,, Und? Wie war Schule?" Außer, dass ich in Ohmmacht gefallen bin, auch beschissen. ,, Eigentlich ganz gut." ,,Geht Lewis auch in deine Schule?" ,,Louis und ja, er ist in meinem Musik und Sportkurs."

Sie nickt und stellt das fertige Essen auf eine andere Herdplatte. ,, Ihr seid gut befreundet, oder?" ,,Ja, sehr gut." ,,Freut mich", lächelte sie und ging aus der Küche. ,,Ich gehe mich kurz umziehen. Ach ja, Gemma und dein Vater sind zu ihrem College gefahren." Ich antwortete ihr nicht, sondern ging in mein Zimmer und zog mir ein anderes T-Shirt an. Nach kurzer Zeit klingelte es auch schon an der Tür. ,, Harry! Mach auf!" Ich äffte ihr im Inneren nach und öffnete lächelnd die Tür. ,, Hallo, Ma'am, Sir." Den anderen erwiederte ich nur ein Hi und ging ihnen hinterher, als meine Mutter langsam kam. Sie begrüßte die und führte sie zum Wohnzimmer. Ich musste mich natürlich wieder neben Félicitè und Charlotte setzen.

,, Und, Harry? Hast du eine Freundin?" ,,Nein. Ich meine, ja." Beide seufzten und guckten sich gegenseitig an. ,, Ist sie hübsch? Wie heißt sie? Kennen wir sie?" ,,Fizzy! Lottie! Benehmt euch!" ,,Ja, Mum", kam es synchron zurück. ,, Tut mir leid, Harry. Aber bei so einem hübschen Mann wie dir." Sie grinste mich an. ,, Okay, lass uns essen."

Wir setzten uns an den Tisch, wo wieder das Gespräch von den Älteren anfing. Louis schaute nur auf seinen Teller, aß aber nichts. Seine Hände zitterten, aber er versteckte die unter dem Tisch. ,, Und, Louis? Hast du schon eine Freundin?" Louis schaute meine Mutter an und schluckte hörbar. ,, N-Nein." ,,Aber du bist nicht schwul, oder etwa doch?" Hab ich schon jemals gesagt, wie peinlich meine Mutter sein kann? ,,Nein, ist er nicht. Schwul sein ist eine Krankheit, und er ist nicht krank. Nicht wahr, Kinder?" Er sah die Mädchen an, welche Reihe nach nickten. ,, Stimmt genau!" Meine Mutter und ich tauschten kurz viel sagende Blicke. Während des Essens war es ruhig. Vielleicht lag es daran, dass sie kein Thema hatten, oder wegen dem Kommentar von Mark. Ich konnte trotzdem nichts essen, da Louis mir Sorgen machte. Er zitterte am ganzen Leib und er war kurz davor, einen Schweißausbruch zu bekommen.

,, Wo ist die Toilette?" ,,Ich zeig sie dir." Er sah mich misstrauisch an, folgte mir aber. ,, Ich kann alleine auf Klo, danke." ,,Du willst aber nicht auf Klo." Ich verriegelte die Tür hinter uns und drückte ihn auf den Klodeckel. ,, Sind das Entzugserscheinungen?" ,,W-Was meinst du?" ,,Ich bin nicht blöd, Louis. Ich sehe es doch. Welche Drogen nimmst du?" Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht.

,, Es geht mir super, verstanden? Und ich wüsste auch nicht, was es dich interessieren könnte. Es ist mein Leben. Ich kann tun und lassen was ich will." ,,Ich will dir nur helfen, Louis. Dir geht es nicht gut. Du bist abgemagert, voll mit Narben und Einstichpunkte. Dazu nimmst du noch Drogen. Wieso lässt du dir nicht helfen?" Er schüttelte den Kopf und wendete seinen Blick von mir. Ich ließ ihn los, aber er stand trotzdem nicht auf. Er war in Gedanken versunken. Ich setzte mich gegenüber von ihm gegen die Wand hin und beobachtete jede einzelne Zuckung, die er machte. ,,Du brauchst Hilfe, Louis,"

,, Genau das ist es. Ihr meint, ich brauche Hilfe. Ich brauche sie nicht. Das ist Zeitverschwendung. Ich bin zufrieden mit mir und ich will so leben. Jede einzelne Narbe und jeder einzelne Kilo, den ich habe, gehört zu mir. Die machen mich zu dem Louis, den ich bin. Den ich sein will. Wieso versteht ihr das nicht? Ich bin nicht krank, sondern anders. Und wenn ihr mich nicht so akzeptiert, dann lebt endlich euer verdammtes Leben weiter."

Ich seufzte. ,, Louis.." ,,Nein! Verstehst du mich nicht? Mach jetzt die Tür auf und lass mich raus." ,, Nein! Du scheinst mich auch nicht zu verstehen, oder? Ich will dich aus diesem Teufelskreislauf befreien. Du bist kaputt, ich merk das doch! Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Bitte, Louis. Gib mir eine Chance, dir zu helfen und zu zeigen, wie die andere Seite des Lebens ist."

,,Eine Chance. Mehr nicht."

,,Vertraust du mir?"

Er antwortet nicht, was ich als Nein verstehe. Ich bin schon einen Schritt weiter, aber das wichtigste habe ich noch nicht. Sein Vertrauen. Das ist das wichtigste, wenn ich ihm helfen will.

,, Was hast du alles?" ,,Was meinst du?" ,,An Krankheiten." ,, Ich bin nicht krank." Ich seufzte. Er verstand es nicht. ,, Hast du Bulimie?"

,,Nein, eine Anorexia Nervosa." ,,Eine..was?"

,,Nervlich bedingte Appetitlosigkeit." Ich nickte. ,, Dann arbeiten wir zuerst daran, hm?" ,,Wenn's sein muss." Ich grinste leicht und ging mit aus dem Bad. ,, Wieso hat es so lange gedauert?" ,,Wir mussten was besprechen", antwortete Louis seiner Mutter und ich nickte zustimmend. ,, Und was?" ,, Louis schläft heute hier. Also, wenn es für Sie okay ist." Den Todesblick von Louis ignorierte ich gekonnt und lächelte seine Mutter an. ,, Oh, okay. Klar, warum nicht?" Ich erzählte meiner Mutter noch vom Plan und ging mit Louis in mein Zimmer. Seine Mutter brachte ihm noch seine Sachen.

,, Ich hasse dich." 

,,Ich dich auch, Lou."

way out. | l.s.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt