Kurzgeschichte: " 'Wer bist du?' "

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Eines Tages finde ich ihn plötzlich in der alten, dunklen Ruine auf der Klippe. Er sieht so aus, als ob er schon immer dort gelegen hätte, in den dunklen, unheimlichen Gemäuern, doch ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, obwohl ich jeden Winkel, jede Gasse und jedes Versteck hier kenne. Hier, in meinem Lieblingsplatz. In meinem persönlichen Reich. In meinem geheimen Rückzugsort, zu dem ich immer wieder komme, um mich zu erholen, nachzudenken, meine Ängste und Sorgen loszulassen. In letzter Zeit komme ich jeden Tag hierher! Ja, ich habe viele Sorgen. Ich, Michael, Sohn eines stets betrunkenen Vaters und frisch gebackener Bruder einer kleinen Schwester, die durch ihre Frühgeburt viel Leid und Kummer für meine arme Mutter, besonders aber auch für mich, der ich ziemlich sensibel bin, mit sich bringt. Mein Vater leidet auch, aber anstatt die seelischen Schmerzen durch leises Weinen und ständiges Beten zu unterdrücken, wie meine Mutter und ich es die ganze Zeit tun, lässt er sie an Alkohol und Zigaretten aus, die aber die schrecklichen Folgen der Launen und der schamlosen und erbarmungslosen Schläge an mich mit sich bringen. Ich gehe in letzter Zeit auch nicht mehr zur Schule. Zu groß ist die Wunde meines Herzens, die durch meine arme Schwester verursacht wurde und durch meinen schrecklich gewordenen Vater immer tiefer und qualvoller wird. Ich erkenne ihn kaum wieder: Früher war er immer so lustig und fröhlich und auch unendlich liebevoll, genau wie meine liebe Mutter. Aber es scheint wohl so, als hätte meine totkranke Schwester nicht nur mir schwere Verletzungen zugefügt. Nicht nur mein Herz zerbrochen! Deshalb bin ich in der jetzigen Zeit immer öfter an meinem geheimen Rückzugsort, wo mich niemand findet. Wo ich mich erholen kann. Wo ich Zeit zum ausgiebigen Nachdenken habe. Zeit, um mich von den körperlichen und seelischen Wunden zu erholen. Und genau dort finde ich an diesem heutigen Tag diese seltsame Gestalt am Boden liegen! Ist das ein Mensch? Ein Tier? Ein... Irgendwas? Naja, ich bin nun mal  eher verträumt, vielleicht nun noch mehr, durch den schweren Zustand meiner Schwester. Neugierig, wie ich auch noch dazu bin, gehe ich zu ihr hin und berühre sie zuerst zaghaft, dann etwas stärker, schubse sie leicht an, dass sie sich von selbst bewegen sollte. Die Gestalt stöhnt leicht und ich zucke erschrocken zurück. Was immer es auch ist, es ist also doch nicht tot, wie ich es zuerst dachte, aufgrund seines eingefallenen, zerrissenen Mantels, seiner wirren, schmutzigen Haare, seiner dünnen, kraftlosen Gliedmaßen, seiner blassen, rissigen Haut. Ich frage schüchtern: "Äh... hallo. Wer bist du? Und was machst du hier?" Das seltsame Wesen stöhnt wieder und bewegt sich leicht, doch ich erhalte keine Antwort, obwohl ich geduldig warte. Irgendwann frage ich wieder: "Wer bist du?" Diesmal höre ich einen Seufzer und die Gestalt hebt endlich den Kopf und sieht mich kurz an, sodass ich ihr blasses Gesicht erkennen kann, die trüben Augen, die vorher mal bestimmt himmelblau strahlten, aber nun mir nur noch einen leeren Blick zuwerfen, die trockenen Lippen, die nun schmutzig-blonden, zerzausten Locken, die geradezu gespenstisch-weiße Haut. Das scheint wohl ein Mensch zu sein! Dann höre ich auch endlich ihre Stimme, die tief und männlich klingt, aber nun nur schwach krächzt: "Geh weg!", bevor der Kopf wieder kraftlos nach unten sinkt. "Wieso? Was machst du denn hier? Und wer bist du eigentlich?" "Geht dich nichts an! Geh weg und lass mich in Ruhe!", bekomme ich als Antwort, diesmal ohne Blickkontakt. Doch so schnell gebe ich nicht auf! "Wer bist du?" "Niemand." "Wie heißt du denn?" "Niemand." "Warum bist du hier?" "Darum." "Was ist mit dir passiert?" "Nichts." "Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?" "Nein." "Ich möchte dir aber wirklich gerne helfen!" "Kannst du nicht. Darfst du nicht." "Warum denn nicht?" "Darum."  Schließlich gebe ich doch seufzend auf; es ist hoffnungslos! Ich bemerke erst jetzt, wie spät es schon geworden ist, die Sonne ist schon fast untergegangen. Ich beeile mich, um schnell nach Hause zu kommen, doch es ist natürlich zu spät: mein Vater erwartet mich bereits und begrüßt mich mit je einer Ohrfeige auf jede Wange, einen Schlag auf die Brust und den Bauch und einen Tritt in den Po. Diesmal schlafe ich mit körperlichen und ohne aktiv spürbaren, seelischen Wunden ein, meine Gedanken kreisen um diesen seltsamen Mann, der plötzlich in der alten Ruine aufgetaucht ist. Wer ist er? Was ist mit ihm geschehen? Was macht er dort? Und warum lehnt er mich so gnadenlos ab und will sich einfach nicht von mir helfen lassen? Ich hoffe sehr, dass meine Träume meine dringenden Fragen beantworten können!

Kunterbuntes AllerleiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt