Kurzgeschichte: "Verborgene Schönheit"

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"Hisoku!? Es gibt Abendessen!", höre ich meinen Vater Hachiko von unten aus dem Wohnzimmer rufen. "Jaa, ich komme gleich!", erwidere ich leicht genervt von der Werkstatt darüber. Diese Kammer mit ihren vielen noch ursprünglichen Werkzeugen ist seit langem mein Lieblingsplatz und ich verlasse sie nur sehr ungern, sondern bin die ganze Zeit nur hier am Klopfen, ich behaue Steine und verwandele sie in Kunstwerke. Naja, ich will wunderschöne Kunstwerke aus ihnen erschaffen, doch ich bekomme es einfach nicht hin, so fleißig und ausdauernd ich auch bin! Sie werden lange nicht so schön, wie mein Vater Hisoku, der Meister des Kunsthandwerks, der mir auch vieles beibringt, es kann, und das frustriert mich total. Stöhnend poltere ich die Treppe herunter und setze mich mit genervt rollenden Augen an den Tisch. "Na, du siehst nicht so aus, als ob du große Fortschritte machen würdest, oder, mein Sohn?", fragt mein Vater und setzt sich zu mir. "Natürlich nicht, weil ich es einfach nicht kann! Ich habe nicht diese großartige Begabung wie du, Vater, sondern eher zwei linke Hände!" rufe ich verzweifelt aus und schaue nur verbittert auf den Tisch, ich bin einfach zu sauer, um etwas zu essen. "Na na, so schlimm bist du doch gar nicht, Hachiko. Deine Modelle sind schon echt schön, nur fehlt ihnen immer noch der letzte Schliff. Sie haben kein persönliches Eigenleben, es fehlt ihnen dein eigener Ausdruck, den du ihnen schenkst", meint mein Vater. "Pfh, 'persönliches Eigenleben'! Das geht doch gar nicht, denn Holz und Stein leben nun mal
nicht...!", murrte ich gelangweilt. "Holz und Stein an sich selbst nicht, da magst du recht haben, mein Sohn. Aber die Figuren, die du aus diesen Gefängnissen heraus befreist, sind doch meistens lebendigen Wesen ähnlich, oder nicht? Wesen mit bestimmten, persönlichen Eigenschaften und Gefühlen!", meint Vater nachdrücklich mit einem tiefen Blick dabei. "Wieso befreie ich sie denn aus ihren Gefängnissen? Ich überlege mir doch selber, was ich aus dem Stein oder dem Holz machen will und die schließliche Figur ist doch von mir selbst erschaffen worden!?", frage ich skeptisch. Ich bin eher der Verstandtyp, der die ganze Zeit überlegt während der Arbeit, anders als mein Vater, der eher mit seinem Herzen bei jeder Sache ist und immer alles einfach spontan macht ohne dabei viel nachzudenken, doch damit kann ich ehrlich gesagt nichts anfangen. "Nein, mein Sohn!", erklärt mir mein Vater und weiser Lehrer lächelnd. "Das Geheimnis des Kunsthandwerks ist es, die Figuren selbst aus ihren Gefängnissen des groben Stein- oder Holzklotzes zu befreien. Sie selber sind schon darin, durch deine Vorstellung. Und durch das Abtragen des Materials um sie herum, was auch nie wieder rückgängig gemacht werden kann, befreist du sie Stück für Stück aus ihrem Gefängnis und sie kommen durch deine Hand zum Vorschein. Sie sind von dir geboren worden durch deine Idee, und von dir aus ihrem Gefängnis befreit worden durch das Abtragen des Materials um sie herum." "Aber wie soll ich denn etwas befreien, was ja eigentlich noch gar nicht da ist?", beharre ich auf meiner Meinung. Mein Vater erklärt mir geduldig: "Es ist doch schon da, Hachiko! Durch deine Vorstellungskraft existiert die Figur bereits in deiner Fantasie, ist dort lebendig. Doch du willst sie aus dem Material erschaffen, das heißt, deine Figur ist auch schon in diesem Stück Material enthalten. Doch du siehst sie noch nicht, sondern nur das Material um sie herum. Dieses trägst du Stück für Stück ab, während du immer wieder das Bild deiner Wunschfigur im Kopf behältst. Das machst du dann solange, bis die Figur deiner anfänglichen Vorstellung dem vorliegenden Material entspricht. Somit hast du schließlich die Figur, anfangs geboren aus deiner Fantasie, aus ihrem Gefängnis befreit, du siehst nicht mehr das grobe Material, sondern deine Figur, die durch dich daraus zum Vorschein kam, mit eigener Persönlichkeit und deinem bestimmten Ausdruck."
Normalerweise glaube ich ja meinem Vater, dem besten Kunsthandwerker weit und breit, und lerne wirklich gerne bei ihm, doch diese komischen Erzählungen gehen mir jetzt doch zu weit. Ich schüttele genervt den Kopf, stehe vom Tisch auf und gehe in mein Zimmer. Die letzten Worte meines Vaters höre ich noch: "Du wirst mir noch dankbar sein für meine Worte und sie mit Freuden befolgen, warte es nur ab, mein Sohn!", bevor meine Tür hinter mir schwungvoll ins Schloss fällt. Ich versuche noch, aus den Erklärungen meines Vaters irgendwie schlau zu werden, doch vergebens, ich verstehe sie einfach nicht, so sehr ich auch darüber nachdenke. Über meine stetige, angestrengte Grübelei schlafe ich schließlich erschöpft ein.

Kunterbuntes AllerleiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt