Ich finde dich

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-Catos Sicht-

Eine Kanone ertönt und ich fahre ungewöhnlicherweise zusammen. Carlos, der neben mir steht wirbelt herum. "Scheint so als hätten Samira und Nico Außenseiter gefunden!" In diesem Moment wird noch eine Kanone abgefeuert. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. "Lass uns nachsehen, was da los ist!", rufe ich Carlos zu und sprinte los, die Machete in der Hand. Wir laufen in die Richtung, in die Samira und Nico gegangen sind. Hovercrafts sind noch nicht da. Ich steigere mein Tempo. Bevor die Hovercrafts kommen, muss ich die Leichen sehen. Ich muss sehen, wer tot ist! Wir müssten schon ganz in der Nähe sein, als ich plötzlich auf etwas trete, das bis zur Hälfte von einem Busch verdeckt ist. Erst will ich weiterrennen, doch dann sehe ich nochmal genauer hin . Verwundert bleibe ich stehen und ziehe das Ding aus dem Geäst. Der Schrecken kommt gleich nach der Erkenntnis. Es ist ihr Bogen! Es ist Lauriss Bogen! Ich renne los, so schnell ich kann, ihren Bogen in der Hand. Lauriss! Ich will ihren Namen rufen, doch ich darf es nicht. Mein Fuß bleibt an etwas hängen und fast wäre ich gefallen. Es dauert eine Weile, bis ich erkenne, dass es sich um einen menschlichen Arm handelt. Nico. Er liegt tot auf dem Boden, einen Pfeil im Schädel. Lauriss. Wo ist sie?! Carlos kommt dazu. "Cato, was...?" Er bricht ab. Ein weiterer toter Körper sticht mir ins Auge. Kleiner als der von Nico. Hellbraune Haare. Die Jacke blutgetränkt. Nein! Ehe Carlos etwas sagen kann, bin ich bereits bei dem Mädchen angelangt. "Bitte!", zische ich. "Bitte sei am Leben." Ich gehe in die Hocke und drehe den Kopf des Mädchens. Das Gefühl der Erleichterung ist so stark, dass mir schwindelig wird. Lauriss lebt. Sie lebt! "Wer ist es?", fragt Carlos. "Sieben." Meine Stimme klingt seltsam, doch ich schaffe es, unter großer Anstrengung, eine gleichgültige Miene aufzusetzen. "Wo ist Samira?" Carlos sieht sich um. Erneut packt mich blankes Entsetzen. Lauriss Bogen... Ein Pfeil der Nico tötete. Lauriss muss ihn erschossen haben und von Samira angegriffen worden sein. Carlos scheint das Gleiche zu denken, denn er sieht sich suchend um. "Suchen wir Samira. Vielleicht haben wir Glück und Zwölf läuft uns über den Weg." Am liebsten hätte ich Carlos hier und jetzt umgelegt, doch das würde nur Zeit kosten. Also renne ich wortlos Richtung Fluss. Den Bogen von Lauriss um den Schultern. Ich weiß nicht wieso, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Lauriss und Samira bei der Klippe finden werde. Den ganzen Weg durch den Wald hoffe ich inständig keine Kanone zu hören.

Der Weg zur Klippe kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Die ganze Zeit über muss ich an Lauriss denken, die vielleicht verletzt irgendwo liegt, während Samira sie foltert. Ich hoffe, dass ich mit meiner Vermutung, Lauriss bei der Klippe zu finden, recht habe. Endlich lichtet sich der Wald. Kurz sehe ich mich hektisch um. Da erkenne ich meine Distriktpartnerin weiter hinten bei der Klippe. Den Blick auf den Abgrund gerichtet. "Hey!", brülle ich. Samira dreht den Kopf in meine Richtung. Carlos, der ebenfalls bei mir angelangt ist, läuft vor zu ihr. Ich tue es ihm gleich. Als wir uns Samira nähern, merke ich, dass sie vor Wut zu beben scheint. "Verdammt nochmal, was ist passiert?", ruft Carlos aufgebracht. Samira blitzt ihn wütend an. "Ich hatte sie fast." "Wen?" "Ja wen wohl du Idiot?! Zwölf natürlich!" "Fast? Was ist passiert?! Wo ist sie?!", rufe ich lauter, als gewollt. "Sie ist gesprungen! Da runter!" Sie zeigt auf den Abgrund. "Was?" Völlig schockiert starre ich hinunter. Ungefähr 15 Meter weiter unten fließt der eiskalte Fluss. Samira sieht mich an. "Ich dachte, sie würde vielleicht von den Felsen weiter unten zerschmettert werden, aber sie hatte Glück und ist voll im Wasser gelandet. Kein Blut so weit ich sehen konnte, keine Kanone, garnichts." Die Erleichterung kommt zurück. "Hast du sie aus dem Wasser klettern sehen?", fragt Carlos. "Nein!", faucht Samira. "Sie scheint irgendwo nah an den Felsen rausgeklettert zu sein, sodass ich sie nicht sehen konnte." Wütend starrt sie auf den Fluss. Ich stehe einfach nur da und versuche mir die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Lauriss lebt. "Lasst uns umkehren.", knurre ich, als ich mir sicher bin, meine Stimme wieder unter Kontrolle zu haben. "Vielleicht haben wir Glück und die Kälte bringt sie um, jetzt da sie von Kopf bis Fuß nass ist." "Ist wohl das Beste. Hab keine Lust ihr hinterher zu springen.", stimmt Carlos mir zu. "Morgen können wir uns ja weiter nach ihr umsehen." Gesagt, getan. Gerade, als wir den Rückweg antreten, tauchen zwei Hovercrafts auf und tragen die beiden Leichen aus der Arena.

Es ist stockdunkel und eisig kalt. Meine Gedanken sind bei Lauriss. Wie kalt muss ihr wohl sein? Die unerklärliche Angst um sie ist zurückgekehrt. Seufzend lehne ich mich gegen eine Kiste. Samira und Carlos schlafen tief und fest. Ich sollte mich nicht um Lauriss scheren. Sie ist nicht mein Problem. Ich muss mich auf mein Überleben konzentrieren, die anderen töten und gewinnen. Wenn ich erstmal das Geld für meinen Sieg überreicht bekomme, ist meine Familie nicht mehr arm. Ich werde ein berühmter Sieger sein, vom Kapitol und meinem Distrikt geehrt. Mein Distrikt. Ihn stolz zu machen war schon immer mein Ziel. Und jetzt, wo es fast so weit ist, werde ich schwach und fange an mich um ein Mädchen zu kümmern, das aus einem anderen Distrikt stammt. Aus Distrikt Zwölf! Aber egal wie lange ich so dasitze und mir meinen baldigen Sieg schönrede, die Sorgen um sie verschwinden nicht. Ich weiß, dass sie nicht lange überleben wird, schutzlos und mit nasser Kleidung. Also gebe ich mir einen Ruck und stehe auf. Der Bogen lehnt neben meiner Machete und ich hänge ihn mir um. Anschließend beginne ich einen großen Rucksack zu packen. Ich fülle ihn mit Nahrung, Wasser, zwei Decken, drei Fackeln, Streichhölzern und zwei Ersatzjacken, die im Füllhorn liegen. Auch eine Nachtsichtbrille, von denen wir nur zwei haben, lasse ich mitgehen. Zum Schluss stecke ich mir noch zwei Wurfmesser an den Gürtel. Dann schultere ich den Rucksack, nehme meine Machete zur Hand und drehe mich zu Carlos und Samira um. Wenn ich jetzt gehe, werde ich nicht mehr hier zurück können ohne von ihnen angegriffen zu werden. Ab jetzt sind sie meine Feinde. "Was solls?", sage ich leise zu mir selbst. "Ich hätte sie so und so umbringen müssen." Vielleicht bringen sie sich auch einfach gegenseitig um. Nein, so dumm sind sie nicht. Alleine werden sie sich mir nicht in den Weg stellen. Vor allem nicht, wenn Lauriss noch da draußen ist. Sie haben gelernt sie nicht zu unterschätzen. Das habe ich auch. Und so drehe ich mich um und gehe. Ich verlasse die Lichtung, auf der das Füllhorn steht und ziehe alleine los. Die Dunkelheit umfängt mich und ich setze eine Nachtsichtbrille auf. Sofort kann ich die Umgebung wieder klar erkennen.

Bei der Klippe angelangt, sehe ich mich um. Was jetzt? Ich beschließe dem Fluss oberhalb der Klippe zu folgen und dann nach unten zu klettern. Nachdem ich eine Weile geradeaus gegangen bin, werden die Felsen weniger steil. Ich gehe an den Rand und blicke hinunter. Der Fluss rauscht unter mir vorbei. Schwarz und gefährlich. Ist Lauriss noch in seiner Nähe? Hoffentlich. Langsam beginne ich den Abstieg und verfluche meine Größe und mein Gewicht. Lauriss wäre sicher viel geschickter. Sie ist klein und wendig. Zum Glück habe ich die Nachtsichtbrille mitgenommen. Ohne sie könnte ich das Klettern bei Nacht vergessen. Wahrscheinlich würde ich mir das Genick brechen oder in den Fluss fallen.

Es dauert ziemlich lange, bis der Fluss nur noch ein bis zwei Meter unter mir fließt. Hier unten ist es nicht mehr ganz so schwer zu klettern. Einige Höhlen, die immer wieder auf fast der selben Ebene auftauchen, machen mir den Weg leichter. Von Lauriss jedoch fehlt jede Spur. Vielleicht ist sie genau diesen Weg gegangen, um wieder sicher zum Wald zu kommen. Oder sie hat es nicht so früh aus dem Wasser geschafft und ist jetzt irgendwo ganz anders. Vielleicht ist sie aber auch auf der anderen Seite des Flusses dem eiskalten Wasser entkommen. Sie könnte fast überall sein. Aber ich habe mich entschieden. Wo sie auch ist, ich werde sie finden.

Catos Wirklich Wahre Geschichte Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt