Erwachen

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Die Dunkelheit um mich ist schrecklicher als alles, was ich in der Arena gesehen oder erlebt habe. Ich bin in meinen Träumen gefangen, sehe Cato und Percy tausend Tode sterben und die anderen Tribute mich zerfleischen. Wie lange ich in dieser Dunkelheit verweile, weiß ich nicht. Es könnten Sekunden sein, Stunden, Tage, vielleicht auch Jahre. Ich kann es nicht sagen. Doch egal wie sehr ich versuche diesen Alpträumen zu entrinnen, es gelingt mir nicht. Kälte dringt in mein Herz und in mir macht sich der brennende Wunsch breit, sterben zu können. Ja, ich will sterben. Irgendwann merke ich, dass die Dunkelheit langsam verschwindet.

Plötzlich bin ich von gleißendem Licht umgeben. Meine Augen brennen, doch ich wage es nicht, die Augen zu schließen, aus Angst, wieder in der Welt der Dunkelheit gefangen zu sein. Ich kann nicht sagen, ob das Licht von der Sonne stammt. Bin ich tot? Nein, das kann nicht sein. Langsam aber sicher gewöhnen sich meine Augen an das Licht und alles um mich herum nimmt Gestalt an. Jetzt erst sehe ich, dass der helle Fleck, der alles erleuchtet, nicht die Sonne ist. Es ist eine Lampe. Mein Atem geht schnell. Wo bin ich? Ich liege auf einer Art metallischer Krankenliege, die in einem kleinen Raum steht. Außer meiner Liege, die sich in der Mitte des Zimmers befindet, stehen noch ein Stuhl und mehrere Apparate hier. Ich bin an einige Schläuche angeschlossen. Die Bäume, die toten Tribute, die Klippe. Alles ist verschwunden. Cato! Alles fällt mir wieder ein. Wo ist er? Er ist tot. Meine Hände und Knöchel sind an die Liege gebunden. Panik überkommt mich. Ich muss Cato finden! Ich muss zu ihm! Die Bänder an meinen Gelenken halten mich erbarmungslos fest. Ich beginne zu schreien. So fest ich kann, reiße ich an meinen Fesseln, doch sie lockern sich kein bisschen. Sterben, ich will sterben! Aber meine Hände und Füße sind gefesselt. Ich kann nichts tun. Moment, doch ich kann. Mühevoll hebe ich meinen Kopf und schlage ihn gleich darauf auf die Liege. Ein dumpfer Schlag ertönt und der Schmerz ist sofort da. Trotzdem schlage ich meinen Kopf weiter und weiter auf das Metall. Ich will einfach nur sterben und Cato folgen. Eine Flüssigkeit sickert aus einem der Schläuche, die an meinem Arm angebracht sind. Augenblicklich verliere ich das Bewusstsein.

Diesmal mischen sich reale Schmerzen mit in die grausame Dunkelheit. Erneut bin ich in ihr gefangen und kann nichts dagegen tun.

Als ich diesmal aufwache, liegt ein Kissen unter meinem Kopf. Gefesselt bin ich immer noch. Diesmal versuche ich gar nicht erst, mich wieder dagegen zu sträuben. Mein Blick fällt auf meine Hände. Kein Blut klebt daran. Sie sind sauber und die Fingernägel ordentlich gefeilt. Mit einem Blick auf meine Schulter, die halb von einem Nachthemd bedeckt ist, merke ich, dass die Wunde, die mir Zwei mit dem Messer zugefügt hat, fast verschwunden ist. Vermutlich wäre ich erstaunt, doch ich bin innerlich so zerstört, dass ich den Blick gleichgültig abwende. Ich habe Cato verloren. Er ist gestorben und ich bin am Leben. Erst jetzt wird mir klar, dass die Hungerspiele vorbei sind und ich die Siegerin bin. Die einzige Überlebende von vierundzwanzig unschuldigen Jugendlichen, die sich bis auf den Tod bekämpfen mussten. Ich will keine Siegerin sein. Percys Lachen und Catos graue Augen kommen mir in den Sinn. Und da liege ich. Verloren, ohne meinen Verbündeten und den Jungen, den ich liebe. Der Wunsch, den Tod zu finden, kommt gewaltsam wieder zurück. Aber was soll ich tun? Ich kann mich nicht bewegen. Das Kapitol hält mich mit allen Mitteln am Leben, denn sie brauchen einen Sieger.

Ich werde in den nächsten Tagen, so kommt es mir jedenfalls vor, immer wieder mit einer bestimmten Flüssigkeit außer Gefecht gesetzt. Jedes Mal, wenn ich aufwache, bin ich sauberer und gesünder, als zuvor. Meine Rippen schmerzen nicht mehr und meine Haare sind seidig und glatt. Irgendwann sind meine Fesseln weg. Ich hebe meine Arme. Sie fühlen sich bleischwer an. Mittlerweile weiß ich, dass ich mich nicht umbringen kann. Langsam setze ich mich auf. Die Schläuche sind verschwunden und vor mir, auf einem kleinen Tisch, der beim letzten Mal sicher noch nicht dagewesen ist, steht ein Teller Suppe und ein Glas Wasser. Beides rühre ich nicht an, obwohl mein Körper nach Wasser schreit. Vorsichtig schwinge ich die Beine von der Liege. Anfangs fühlen sie sich seltsam taub an, doch kurz darauf schaffe ich es bereits, wieder einigermaßen gerade zu stehen. Plötzlich springt eine Tür auf. Ich fahre heftig zusammen und springe hinter die Liege. Aber es ist kein Monster, keine Mutation. Im Raum steht eine große Frau mit einer flammendroten Perücke. "Lauriss!", ruft sie. "Keine Angst Kleine. Ich bins bloß!" Wie erstarrt bleibe ich in Deckung. Effie geht langsam um die Liege herum. "Ganz ruhig Lauriss. Du hast es geschafft." Ich starre in Effies geschminktes Gesicht. Sie geht zu mir in die Hocke. "Komm, ich helfe dir." Sanft zieht sie mich hoch. "Cato?" Meine Stimme ist kaum zu hören, so brüchig ist sie. Doch Effie scheint zu verstehen. Ich erwarte, dass sie mich in den Arm nimmt und mich tröstet, doch das will ich nicht. Ich will kein Mitleid, ich will seine Leiche sehen. Aber Effies Gesichtsausdruck ist alles andere als mitfühlend. Sie lächelt. Vollkommen verwirrt starre ich Effie an. Was soll das? "Er lebt Lauriss. Cato ist am Leben."

Es ist, als würde ich aus den Tiefen eines eiskalten Gewässers auftauchen. Luft strömt in meine Lungen. Süß wie Honig. Mir wird schwindelig und meine Beine geben nach. Effie fängt mich auf und hilft mir, mich erneut zu setzen. Stumm lehne ich meinen Kopf gegen die geflieste, kühle Wand. Ich wage nicht, es zu glauben. Sicher sagt Effie das nur, um mich wieder auf die Beine zu bekommen. Es kann nicht sein. Ich habe ihn doch sterben sehen. Oder etwa nicht? "...wie?", krächze ich. Effie lächelt. "Ihr beide wart einfach bezaubernd. Die erste Liebesgeschichte, die in den Hungerspielen jemals vorgekommen ist. Das ganze Kapitol war einfach begeistert von euch. Sie waren wie gefesselt. So etwas habe ich noch nie erlebt. Als es auf das Finale zugegangen ist, haben einige sehr einflussreiche Bewohner angefangen an Präsident Snow zu appellieren. Sie wollten, dass er euch beide gewinnen lässt, wenn ihr zum Schluss übrig bleibt. Sehr viele haben davon Wind bekommen und sich ihren Bitten angeschlossen. Unser barmherziger Präsident hat schließlich eingewilligt." Sie strahlt. Ich starre sie an. Snow hat erlaubt die Regeln zu ändern? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. "Ich glaube, hätte er das nicht getan, hätten die meisten Menschen hier angefangen zu rebellieren.", meint Effie ironisch. "Ihr wart so toll. Ich kanns einfach nicht glauben." Eilig senke ich den Blick. Die Geschichte ist so unglaublich. Unauffällig kneife ich mir fest in den Unterarm. Es schmerzt. Nein, ich träume nicht. "Komm Kindchen, du musst dich ausruhen.", sagt Effie nach einer Schweigepause. Ich stehe mit wackligen Beinen auf. "Kann ich ihn sehen?" Effie strahlt mich immer noch an und führt mich zur Liege. "Du darfst ihn erst bei eurem Auftritt wiedersehen." "Wann ist das?" "Das dauert noch ein paar Tage. Cato muss sich noch erholen. Er ist noch nicht wieder auf den Beinen." "Aber..." "Tut mir leid.", unterbricht sie mich und deckt mich zu. "Das hat Seneca Crane so angeordnet. Sie wollen euer Wiedersehen live auf der Bühne übertragen." Sie umarmt mich, wobei ihre Perücke etwas verrutscht. "Bis morgen Lauriss. Haymitch sieht später nach dir. Er ist noch ziemlich beschäftigt mit den Sponsoren, die du während den Spielen hattest." Haymitch. Ja sogar auf ihn freue ich mich. Und auf Cinna, mein Vorbereitungsteam, auf Mutter, Vater, Gale und Katniss. Ich lächle. Noch nie habe ich mich so lebendig gefühlt wie in diesem Moment. "Was hat Catos Mentor zu der Regeländerung gesagt?", frage ich Effie noch, als sie schon in der Tür steht. "Begeistert war er nicht. Er wollte, dass Cato alleine gewinnt. So sind sie halt, die Karrieros." Sie lächelt. "Ruh dich jetzt aus." Mit diesen Worten verschwindet sie und schließt die Tür hinter sich. Kurz denke ich an Catos Mentor. Ein großer, grobschlächtiger Mann, der vor drei Jahren die Spiele gewonnen hat. Sein Name ist mir entfallen, doch er ist Cato ziemlich ähnlich. Ich schließe die Augen. Cato lebt! Das Gefühl, das sich in mir breit macht, habe ich noch nie verspürt. Es ist so gut, so wunderbar und ich fühle mich, als würde ich träumen. Doch einen guten Traum. Nach all der Zeit.

Catos Wirklich Wahre Geschichte Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt