Alles hätte ich erwartet, nur das nicht.
Unvorstellbar.
Undenkbar, dass es so etwas gibt, aber ich sehe es deutlich vor mir.
Mein Mund klappt auf und ich schnappe nach Luft.Denn da sitzt sie.
In diesem Raum sitzt Mary.
Richtig, die Mary aus dem Fotoalbum!
Und zwar in Licht und Farbe.
Sie trägt ein braunes Kleid, das ziemlich altmodisch wirkt, mit hohem Kragen und Borden und Verzierungen. Sie wirkt ein wenig wie eine Statue, majestätisch, traurig, streng.Vorsichtig trete ich einen Schritt auf das echt wirkende Kunstwerk zu und zucke zusammen, als sich plötzlich ihr Arm um einige Zentimeter nach links verschiebt.
Erschrocken taumele ich zurück und schnappe nach Luft, während sie mich mustert. Sie blinzelt sogar!
Man ist das gruselig.Was um alles in der Welt...!, entfährt es mir.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Ist sie nun echt oder nicht?
Vermutlich will sich jemand einen Spaß mit mir erlauben.Unsicher schaue ich zu Matthias, der da ganze scheinbar interessiert verfolgt. Er sitzt neben der Tür und schreibt nebenbei etwas auf einen Block.
Ist er Psychologe oder so was? Analysiert er mich?
Ich räuspere mich, nicht wissend, was ich jetzt tun soll. Und vorsichtshalber gehe ich ein paar Schritte in seine Richtung.
Man weiß ja nie."Caroline", höre ich da eine krächzende Stimme aus der Richtung des Fensters.
Langsam drehe ich mich um und bekomme fast einen Anfall, als ich Mary keine zwei Meter von mir stehen sehe, sie schaut mir unablässig in die Augen. Ihre haben einen unheimlichen, tiefen Grauton."Uaaah!", Entfährt es mir quietschend. "Sie sind echt!"
Zu meiner Verteidigung: es ist wirklich wirklich unheimlich.
Mary sieht ziemlich tot aus, zumindest ihre Augen.
Äußerlich ähnelt sie einer Tante. Ihre dunkelbraunen Haare sind von silbergrauen Strähnen durchzogen, jedoch steht sie noch aufrecht. Genau wie auf den Bildern.
Und sie hat sich so leise bewegt, als wäre sie ein Geist. Man sie müsste einer sein! Eigentlich müsste sie längst tot sein!Okay, wo genau bin ich hier gelandet? Bei Verstehen Sie Spaß?
Oder in einem Horrorfilm?
Egal was, es ist echt unheimlich. Aber wenn Matthias mich her gebracht hat, wird es schon nichts schlimmes sein. Er mag zwar fies sein, aber dass er so gemein ist traue ich ihm nicht zu.
Misstrauisch beäuge ich die Hand, die Mary mir entgegen steckt.
Nimm einfach die Hand, versuche ich mich selbst davon zu überzeugen. Einfach kurz schütteln.Widerstrebend stecke ich meine Hand in ihre Richtung und bevor ich sie weg ziehen kann wird sie umklammert von fünf knöchernen Fingern.
Ihre Hand ist zerbrechlich, doch der Griff ist stark. Und zu meiner Verwunderung fühlt sie sich menschlich an.
Was denn sonst? Schießt es mir durch den Kopf.Vielleicht habe ich mir doch zu viele Gedanken gemacht. Möglicherweise ist das nur eine Nachfolgerin. Eine die ihr ziemlich ähnlich sieht.
"Ähm hi", sage ich unsicher, als ich die bedrückende Stille bemerke. Nur das Kratzen von Matthias' Stift ist zu hören. Was soll der Blödsinn? Kann er mir nicht mal helfen oder so? Findet er das lustig?
Die Dame starrt mich immer noch an. Eindringlich.
Und ich kann Ihren Blick nicht länger als ein paar Sekunden halten.Ich muss mir das fluchen verkneifen, als ich wieder wegsehen muss.
Endlich lässt der Druck auf meiner Hand etwas nach.
Was soll ich jetzt tun?
Hm. Unsicher musste ich sie."Wer sind Sie?", frage ich vorsichtshalber noch mal nach. Nun gut, hauptsächlich tue ich es, um das Schweigen zu brechen.
"Sieh mich an wenn ich mit dir Rede!", erwidert die Frau mir gegenüber harsch.
Ich Blicke nach oben."Mein Name ist Mary." sagt sie dann etwas ruhiger. "Aber das müsste dir längst bekannt sein. "
Die Dame scheint mich mit ihrem Blick geradezu zu röntgen.
Mir bricht kalter Schweiß aus. Lange halte ich das nicht mehr durch.Ich unterdrücke den verzweifelten Drang mir die Hände vors Gesicht zu schlagen wie ein kleines Kind.
So nach dem Motto 'Seh ich dich nicht siehst du mich nicht'.Stattdessen räuspere ich mich unauffällig. "Sie sehen ihre Ahnin wirklich ähnlich", bringe ich heraus. Warum sage ich das? Vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht ist es nur Zufall, dass ich dieses Fotoalbum mit ihr in Erinnerung bringe. Aber sie heißt Michell. Und Mary. Da liegt es irgendwie nahe...
Aber muss jeder wissen, was in mir vorgeht? Nein. Erst denken, dann reden, versuche ich mir einzutrichtern.
Matthias Gekratze mit dem Stift habe ich längst ausgeblendet. Seine Anwesenheit aber spüre ich noch.
Gut so.
Irgendwie habe ich Angst, dass die Alte die Augen aufreißt und wie eine irre meine Augen mit ihren langen Fingernägeln auskratzt.
Angespannt stehe ich da, bereit zur Flucht. Die Stille ist gespannt wie ein Bogen. Na hoffentlich überspannt es ihn nicht. Mich tut es das."Nun ja, so ähnlich. Hier stehe ich persönlich", Mrs Mitchell lacht bitter auf. Gleichzeitig sieht sie mich noch immer lauernd an. Argh!
Als würde sie auf eine Erkenntnis meinerseits warten.
Hören Sie auf, will ich sie anschreien.
Aber alles was meinen Mund verlässt ist ein ersticktes "Hm".Sie hat meine Hand immer noch nicht losgelassen. Nein, sie klammert sich förmlich daran. Ihre knochige Hand zittert und meine Finger beginnen langsam weh zu tun.
Diese Situation ist einfach nur absurd.
Ich stehe da und wundere mich über den seltsamen Verlauf meines Lebens.Noch vorgestern war alles normal und karg. Mein Leben war leer.
Seit gestern habe ich zwei Anfälle gehabt.
Und heute - heute unterhalte ich mich mit einer Toten.
Erschrocken reiße ich meine Augen auf, als ich erst richtig begreife, was ich eigentlich schon seit einigen Minuten weiß.
Ich halte tatsächlich gerade die Hand einer Frau, die eigentlich tot ist, seit... ja seit wann eigentlich?
Ich habe das Gefühl ich platze gleich."Kann mir jetzt endlich mal jemand sagen, was hier los ist?", frage ich harsch, fast schon grob.
Das ganze wird mir jetzt echt zu viel.
Ich habe keine Lust mehr. Auf diese blöde Geheimnistuerei und auch auf dieses scheinheilige überhebliche Getue.
Vielleicht tue ich Matthew und den Jungs Unrecht, aber ich will einfach nach Hause und nichts mehr von diesen Schlössern mitbekommen."Du weißt, was hier los ist." Mary durchdringt mich mir ihrem Blick geradezu und ich zucke aus Reflex zurück.
Mary lässt meine Hand endlich los und nichts hält mich mehr.Ich gehe mehr oder weniger unauffällig einen großen Schritt zurück.
Mir egal, was Sie jetzt von mir denken."Falsch.",erwidere ich eben so ruhig und setze einen kühlen Blick auf.
Hoffentlich durchschaut sie mich nicht. "Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht. Und ich würde es wirklich sehr zu schätzen wissen, wenn sie es mir endlich verraten würden. Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit."Marys Blick wird dunkel und nun spüre ich auch die Gefahr, die von ihr ausgeht.
Eine uralte unversiegbare Kälte scheint aus Ihr herauszuströmen und berührt mich. Ich schaudere.
Als Mary dann zu sprechen beginnt, stellen sich die Härchen auf meinen Armen auf, so schneidend ist ihr Ton. "Für mich wirst du immer alle Zeit der Welt haben müssen. Gewöhne dich lieber daran."Dann dreht sie sich um und geht zu einem großen Schrank, aus welchem sie ein hölzernes Kästchen holt.
Wie gebannt starre ich ihr hinterher, unfähig ihre letzten Worte wirklich zu begreifen. Mein Gehirn scheint nicht mehr denken zu können.
Ehe ich auch nur einen klaren Gedanken fassen kann ist sie auch schon zurück und drückt mir das Kästchen in die Hand."Bewahre es gut.", sagt sie ernst. "Es könnte unser beider Untergang bedeuten."
Noch ein eindringlicher Blick.
Dann dreht sie sich um und verschwindet durch eine Seitentür.
Verwirrt, alamiert, entsetzt, ratlos und verzweifelt bleibe ich zurück.
Mit mir das Kästchen, dessen Inhalt ich nicht kenne.
Und einem Blick, der sich mir tief ins Gedächtnis gebrannt hat.
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Carbisdale - How to defeat the Spirit of Castles
RomanceSchon als Caroline zum ersten Mal Cawdor Castle, ein Schloss in ihrer neuen Heimat Schottland, betritt, ahnt sie, dass hier etwas nicht stimmt. Seltsame Legenden ranken sich um die Schlösser hier in der Gegend, insbesondere um Carbisdale Castle, de...