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"Hey", begrüßt mich Wallace am anderen Morgen, als ich ihm lächelnd die Tür öffne.
Es ist bereits halb zehn und so konnte ich endlich mal wieder ausschlafen.

"Hey Wallace", erwidere ich den Gruß mit ungebrochen guter Laune.
Was gibt es schöneres, als endlich mal wieder bis neun Uhr zu schlafen?

"Komm rein", sage ich und schließe die Tür hinter ihm. "Ist alles noch ein bisschen chaotisch, aber du kannst dich in die Küche setzen."

Er folgt mir stumm über den Flur und setzt sich an den Tisch.
"Willst du was trinken? Saft?", frage ich, bemüht eine gute Gastgeberin zu sein.
Wallace nickt und bedankt sich, als ich ihm ein Glas Apfelsaft hinstelle.
"Bin gleich soweit", sage ich und gehe in mein Zimmer, um meine Tasche zu holen. Auf dem Weg zurück schaue ich noch kurz in Moms Schlafzimmer. "Tschau Mom", rufe ich hinein... und runzle die Stirn. Das Bett sieht aus wie am Abend zuvor. Offenbar ist sie gar nicht nach Hause gekommen. Verwirrt schaue ich noch ins Badezimmer und als auch dort niemand ist schalte ich mein Handy ein.

"Wir können gleich gehen", sage ich zu Wallace. "Ich muss nur noch kurz meine Mutter anrufen."

Wallace steht auf. "Weist du nicht, wo sie ist?" Er klingt ein wenig verwundert.
"Keine Ahnung", erwidere ich, während das alte Handy mal wieder Stunden braucht, um hoch zufahren.
Hoffentlich geht es Mom gut. Sonst schreibt sie mir immer eine Nachricht. Ein wenig nervös starre ich auf das Display und hoffe auf eine SMS.

"Sie war gestern Nacht noch bei Matthias", reißt mich Wallace' Stimme aus meinen Gedanken.
"Wahrscheinlich hat sie dort übernachtet."
Verdutzt schaue ich auf. Sein Gesichtsausdruck ist unlesbar. Einzig seine Stirn ist gerunzelt. Zu gerne würde ich wissen, was genau er gerade denkt.

"Woher weißt du das denn?", möchte ich neugierig wissen.
"Ich war noch bei ihm, gestern Nacht." Für Wallace scheint das ganz normal zu sein. Schläft er auch irgendwann?

"Du bist um halb eins noch zu Matthias gefahren?", frage ich skeptisch."Einfach so?"
Er zuckt mit den Schultern. "Ich habe dort geschlafen."

Nun reiße ich die Augen noch weiter auf. Wallace wohnt bei Matthias? Das ganze wird immer seltsamer. Ob Matthias ihn darauf angeheuert hat, auf mich aufzupassen? Womöglich stecken sie unter einer Decke und wollen irgendetwas von mir. Matthias ist mir zur Zeit sowieso etwas suspekt. Zuerst tut er so gentlemanlike und dann lässt er mich nach der Turmaktion mit Mary einfach stehen. Was, wenn mich bei Wallace mein erster Eindruck ebenfalls getäuscht hat?

Vorsichtig schaue ich ihn an und er erwidert meinen Blick.
"Hm", mache ich.
Da scheint mehr dahinter zu stecken.
Aber... "Lass uns losfahren", sage ich nur und gehe voraus in Richtung Tür.

Wallace kommt mir hinterher und während ich die Tür abschließe spüre ich seinen Blick auf meinem Rücken.
"So, das wars", sage ich betont munter. "Wo hast du geparkt?"
Ich bekomme noch einen forschenden Blick zu spüren, ehe er an mir vorbei geht. Rechts, am Straßenrand steht sein schwarzes kleines Auto. Wir steigen ein und Wallace startet den Motor.
Zwischen uns herrscht eine bedrückende Spannung und die Stille macht es auch nicht besser. Unruhig schaue ich aus dem Fenster, als ich den Entschluss fasse, in einfach zu fragen.

"Was genau habe ich mit diesen Schlössern zu tun?", falle ich mit der Tür ins Haus. Ich weiß genau, dass er ganz genau weiß, was ich meine und die Antwort kennt.
Danach ist es wieder still und ich schaue nach rechts zu Wallace. Ohne eine Regung schaut er durch die Windschutzscheibe und fährt weiter, als hätte ich nichts gesagt.
"Hey!", sage ich lauter.
Nichts.
"Wallace", beginne ich. "Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich gestern mit zu deiner Großmutter genommen hast, aber ich verstehe immer noch nicht alles. Kannst du nicht zumindest versuchen, mir eine Antwort zu geben?"

Ich weiß nicht, woher der Mut gekommen ist, diese Sätze zu sagen, aber ich fühle mich befreit, nachdem ich sie ausgesprochen habe.
Heute werde ich nicht nachgeben.
Also starre ich stumm zu dem Typen, der neben mir sitzt.
Der wirft mir einen Seitenblick zu und runzelt dann die Stirn.
Was genau ist denn jetzt sein Problem?

"Hör zu, eigentlich will ich damit so wenig wie möglich zu tun haben", höre ich endlich seine Stimme. "Ich kann dir einiges erklären, aber du musst wissen, dass du vieles nicht ganz so ernst nehmen kannst, wie alle anderen es leider tun."
Ich schweige. Wallace sieht das als eine Aufforderung, um weiterzusprechen.

"Ich habe eine Großmutter, die du kennengelernt hast. Ihre Schwester Mary hast du schon kennengelernt. Und du hast sicher den Unterschied erkannt."
An uns zieht die wunderschöne Landschaft vorbei, doch ich habe nur Augen und Ohren für Wallace.
"Mary ist am diesem Blödsinn kaputtgegangen", fährt er fort. "Sie nimmt Medikamente, hat alle paar Tage sogenannte Anfälle und leidet an Schizophrenie.
Du musst wissen: sie ist nicht wirklich die Schwester von Betty, sondern die Stiefschwester. Eigentlich ist sie gar nicht blutsverwandt mit Mary, unserer Urahnin.
Sie hat sich in Clarc, ihren anderen Stiefbruder, verliebt. Als er gestorben ist, hat bei ihr alles angefangen."
Er schaut starr aus der Windschutzscheibe.
"Was hat angefangen?", frage ich schließlich ungeduldig.
"Was hast das alles mit dieser Mary aus dem Fotoalbum zu tun?"

"Was spürst Du, wenn du in einem Schloß bist?", stellt er eine Gegenfrage. Ich bin mir sicher, er weiß es genau.
"Ein drückendes Gefühl... Hass. Verzweiflung. Ein Schatten, der sich über mich legt, et bringt mich dazu, mich selbst zu verachten", sprudelt es aus mir heraus und ich halte entsetzt inne. Dass ich dieses Gefühl so genau in Worte fassen kann verblüfft mich ebenso, wie die Tatsache, dass ich Wallace gerade mein innerstes Seelenleben preisgebe.

"Genau.", sagt Wallace. "Du kennst Marys Geschichte. Sie wurde alleine nach Carbisdale Castle verbannt. Alleine, gehasst, ohne Hoffnung. Du hast das Fotoalbum gesehen." Ich nicke, als er zu mir hinüber schaut.
"Aber du hast den Brief nicht gelesen, den Brief, der alles zu erklären scheint."
Abermals nicke ich.
"Hast du das Kästchen dabei?", will er wissen. Verwirrt runzle ich die Stirn. Was genau hat das denn nun wieder damit zu tun?
Dennoch: ich hole das Teil aus meiner Handtasche.
"Mach es auf", befiehlt mir Wallace und nach kurzem Zögern tue ich wie geheißen.
Es ist leer.
Mist! Ich muss den Inhalt verloren haben... fieberhaft denke ich nach. Bei dem Sturz von der Treppe vielleicht! Da muss irgendetwas schief gegangen sein.
"Du musst den doppelten Boden heraunehmen", reißt Wallace' Stimme mich aus meiner Panik.
Mit zitternden Fingern taste ich auf dem Boden herum und finde tatsächlich eine kleine Nische.
Alles, was ich finde, ist ein ziemlich vergilbtes Zettelchen und ein kleiner Kettenanhänger

Neugierig, was dieses unscheinbare Teil wohl für eine Bedeutung hat, falte ich ihn auseinander und überfliege die Zeilen:

Ich bin allein und werde wahnsinnig, niemand wird mich je verstehen.

Ein einfacher Satz, eigentlich total unspektakulär...
"Mary hat ihn quasi zu ihrem Lebensmotto gemacht, nachdem ihr Ehemann von ihr getrennt war", sagt Wallace. "Einige Eingeweihten behaupten, man könne den Fluch so brechen. Indem man Mary versteht."

"Man muss Mary verstehen, um die Anfälle loszuwerden?" Ich runzle die Stirn. Also wenn ich Marys Gefühle bei den Anfällen noch nicht gut genug verstehe, dann weiß ich auch nicht...

Carbisdale - How to defeat the Spirit of CastlesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt