"Ich weiß nicht...", murmelt Wallace vor sich hin, als wir tatsächlich die Treppe in den ersten Stock wieder nach oben gehen. "Sie ist eine alte Frau, wir sollten Sie in Ruhe lassen... sie ist doch so gebrochen. Das einzige, was sie will..."
"Nix da", unterbreche ich Wallace. "Mary wollte immer aus dem Schloss hinaus und mit George vereint sein. Mary denkt sie sei Mary Mitchell. Und außerhalb des Schlosses... sieht sie mal wieder etwas anderes."
Ich versuche selbstsicher zu wirken, aber beim letzten Satz wackelt meine Stimme bedenklich. Die alte Frau ist seit Jahren in diesem Zimmer. Und dann kommen zwei junge Leute und wollen Sie einfach so...rausbringen.
Schon irgendwie barbarisch..."Matthias bringt mich um, wenn das nicht klappt, Caro... er bringt mich um." Wallace scheint gar nicht zu merken, dass diesmal er es ist, der sich an meine Hand klammert. Wäre die Situation nicht so ernst, fände ich es lustig.
Leider, leider ist mir aber gar nicht nach Lachen zumute. Eher nach im-Bett-verkriechen."Es gibt zwei Personen in Edinburgh, die im der Psychiatrie sind, weil sie nach einiger Zeit aus dem Schlössern geholt wurden...", bereitet Wallace mir weiter ein schlechtes Gewissen. Dass seine Argumente aber auch immer so überzeugende sind...
"Vielleicht geht Mary ja freiwillig mit.", versuche ich kläglich unsere Sorgen loszuwerden. Ich weiß genau, dass diese Aktion meine Idee war, ich bin verantwortlich, wenn diese Frau...
"Okay die Idee ist doof. Jetzt können wir noch gehen", flüstere ich Wallace zu und bleibe vor Marys Tür stehen.
Er sieht mich mit einem seltsamen Blick an. Was er wohl gerade denkt?
"Bringen wir es hinter uns." Mit diesen Worten stößt Wallace die Tür auf.
Wir betreten den dämmrigen Raum und sehen Mary - natürlich - am Fenster stehen. Sie schaut hinaus."Mary?", fragt Wallace vorsichtig.
Langsam kommt Bewegung in die alte Frau. Müde dreht sie sich um, die Augenhöhlen sehen im Dämmerlicht noch tiefer aus, als sie es ohnehin schon sind."Wallace." Mary verlässt ihren Stammplatz und kommt zu uns.
"Und du. Natürlich." Sie nickt mir zu. Anscheinend hat sie nichts mehr gegen mich.
"So spät am Abend verlassen mich die Kräfte, mein Junge", wendet sie sich an Wallace. "Ich hoffe nur es rettet mich bald jemand. George, wo ist er?"
Es zerreißt mir fast das Herz, diese alte gebrochene Frau so dasitzen zu sehen. Sie spricht ohne zu wissen wovon sie spricht, aber sie glaubt zu wissen, was sie wissen muss.
Es ist so traurig zu sehen, was mit einem Menschen passieren kann. Wallace muss das alles noch viel näher gehen als mir, schließlich kennt er Betty schon so lange.
Mir kann das auch passieren. Bald. Wenn wir scheitern, bin auch ich dem Untergang geweiht und das bereitet mir Sorgen. Ich will nicht, dass jemand leidet. Aber anderen, Menschen, die ich liebe, möchte ich selbst sich nicht zur Last fallen.
Ich muß das schaffen, für uns alle.Ich werfe Wallace einen Blick zu, einen, der mehr sagt, als tausend Worte.
"Mary", sagt er und wendet seinen Blick von mir ab. "Glaubst du nicht, du sitzt schon ziemlich lange in diesem Zimmer?"
Misstrauisch schaut Mary mich an, dann zurück zu Wallace."Lange, lange", sagt sie und schweigt wieder gedankenvoll.
"Mary, Großmutter, ich würde gerne mit dir nach draußen gehen.", sagt Wallace und er schluckt.
Ich muss auch schlucken, als mir bewusst wird, dass er das für mich tut. Für mich!Mary ist stocksteif. Sie atmet, unruhig, fasst sich an den Kopf. "Nein, nein.", murmelt sie unruhig. "Nein, nein, nicht du. Wallace."
Eine Weile ist es still. Wir stehen abwartend da, bis Mary ganz langsam ihren Kopf in meine Richtung dreht. Sie kämpft, das ist deutlich zu sehen.
"Du.", flüstert sie gebrochen, "was hast du mit ihm gemacht? Mit meinem Wallace?"
Jetzt bloß kein schlechtes Gewissen...zu spät. Aber nicht weinen, Caro, nicht weinen. Ich schlucke den Klos in meinem Hals herunter und hole tief Luft.
"Du hast heute Mittag, ich würde dich nicht verstehen." Ich bin überrascht, wie sicher meine Stimme trotz allem klingt.
Mary wartet ab, die Augen lauernd auf mich gerichtet."Ich glaube ich verstehe dich doch. Ich hatte diese Anfälle. Ich habe sie gehört. Mary Mitchells Stimme in meinem Kopf. Ich bin umgekippt und ich dachte wirklich mein Leben sei zu Ende."
Mary fasst sich an den Kopf, hört aber weiter zu.
"Mary, komm mit nach draußen.", sage ich. "Du bist nicht Mary Mitchell und es gibt für dich keinen Grund nicht hinauszugehen."
Ihr Blick fährt auf, plötzlich wieder lodernd und voller Wut, aber ich lasse sie nicht zu Wort kommen und weiche nicht zurück.
"Mary Mitchell wollte ebenfalls aus diesem Castle heraus. Denn George war nicht hier drinnen. Sondern draußen."
Meine Stimme verklingt im Raum und selbst die Wände scheinen zuzuhören. Das Schloss horcht auf.
Es ist die Stille des Schicksals.
"Komm mit, Mary. Ich helfe dir.", sagt Wallace und greift nach ihrer Hand.
Ich sehe der Dame an, wie schwer es ihr fällt, dem Arm ihres Enkels zu nehmen. Sie kämpft gegen etwas an. Gegen eine Haltung, die die jahrzehntelang verteidigt hat. Aber mein Argument bringt sie ins Wanken und Wallace, ihr ein und alles, hat sie sogar Großmutter genannt, um sie zu überzeugen.
Jetzt redet er leise auf sie ein.
"Du kannst nicht immer hier sein. Ich möchte dir noch so viel zeigen und wenn du einen George treffen willst, musst du hier hinaus. Du kannst jederzeit wieder hineinkommen."Marys Gesicht ist verkniffen, aber sie geht einen Schritt auf die Tür zu.
In meine Ohren tritt ein Summen, als würde sich Marys Geist dagegen auflehnen, dass ich hinausgehe.Ich will zu Wallace. Er soll mich beschützen, ich kann das nicht...
Ich... Ausgerechnet jetzt.
Über meine Gedanken legt sich ein Schleier und das Summen in meinem Ohr wird stärker.
Keuchend stütze ich die Hände auf den Oberschenkeln ab und es fühlt sich an, als würde zu wenig Luft in mein Gehirn gelangen.Wie aus der Ferne sehe ich, wie Wallace mir die Tür aufhält und mich jemand mitzieht. Mich berührt jemand.
Wie gegen weiter, aber es geht viel zu langsam. Alleine hätte ich den Weg nicht mehr gefunden und ich merke ganz genau, wie die Glaskugel sich um mein Denken schließt. Ich bin allein und nehme gar nicht mehr wahr, dass ich an der Treppe stolpere.
Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Person wahr, die meinen Arm fest packt, aber es ist egal.
Ich bin einfach nicht genug. Hier, ganz alleine, niemand, der mich liebt.
Halb bei Bewusstsein schüttle ich den Kopf, aber bevor ich begreife, warum, ist es wieder weg.
Meine Lungen schmerzen plötzlich. Die Leere in meinem Kopf wird von dem Rauschen meiner Ohren übertönt. Es ist schmerzhaft und dann...
Knalle ich auf den Boden. Mein Sturz ist abgefedert, die Glaskugel hat wohl auch ein Gutes. Sie schützt mich vor Schmerzen...
Der Nebel... weg.
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Carbisdale - How to defeat the Spirit of Castles
RomanceSchon als Caroline zum ersten Mal Cawdor Castle, ein Schloss in ihrer neuen Heimat Schottland, betritt, ahnt sie, dass hier etwas nicht stimmt. Seltsame Legenden ranken sich um die Schlösser hier in der Gegend, insbesondere um Carbisdale Castle, de...