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Als ich am nächsten Morgen aufwache, scheint mir die Sonne direkt ins Gesicht. Stöhnend drehe ich meinen Kopf weg und vergrabe in unter meiner Decke.

Was kann es unangenehmeres geben, als so viel Helle am Morgen?
Nichts.
Die Antwort steht für mich fest.

Aber weil ich weiß, dass das Alles nichts bringt, gebe ich mir einen Ruck und rapple mich auf. Ich kann schließlich nicht ewig liegen bleiben.
Nein, ich muss zurück in den grässlichen... ja, was ist das eigentlich?
Alltag kann man es ja eigentlich nicht nennen.

Müde bahne ich mir einen Weg durch meine Wäsche, die dringend einmal in meinen neuen Schrank geräumt werden sollte und tapse in die Küche.
Nun ja, in das, was irgendwann wohl einmal eine Küche darstellen soll.
Noch ist nichts eingeräumt, die Kartons mit dem Besteck liegen offen herum. Wir haben noch keine Teller, die will Mom heute besorgen.

Um mich selbst auzuheitern summe ich eine kleine Melodie, während ich aus einer Einkaufstüte ein fertig belegtes Sandwich angle und mir einen Stuhl freiräume.
Das nenne ich doch mal ein Frühstück.

Während ich esse überlege ich, was ich wohl mir diesem Tag anfangen soll. Museum? Einfach ausruhen? Die Gegend anschauen?

Eines ist mir klar: möglichst weit weg von Carbisdale Castle sein!
Gestern hat mich Wallace noch nach Hause gefahren und ich bin sofort ins Bett - ohne Mom zu treffen.
Das ganze ist mir wirklich furchtbar peinlich und ich hoffe, dass ich ihn nicht mehr sehen muss.
Ich will mir der ganzen Geschichte nichts zu tun haben und habe mir vorgenommen das ganze als Vergangenheit abzustempeln.
Meine menschliche Neugierde unterdrücke ich.
Ich versuche es zumindest.

Wallace.
Meine Gedanken gleiten wieder zu ihm und wollen ihn nicht loslassen. Er ist einfach ein Traumtyp. Gestern war er so fürsorglich, dass er sich direkt in mein Herz geschlichen hat. Mist!

Kaum vier Tage hier und dann so was.
Am besten wir sehen uns erst gar nicht mehr, dann verkompliziert sich das ganze nicht.
Okay, als ob er sich für mich interessierten würde. In seinen Augen bin ich noch ein Kind.

Okay, stopp! Jetzt reicht es! Bin ich denn von allem Guten Geistern verlassen?
Ich versuche mich auf meine Atmung zu konzentrieren und Wallace zu vergessen.
Einatmen, Ausatmen.
Einatmen, Ausatmen.
Du bist auch nur ein Mensch.
Okay.
Ich konzentriere mich wieder auf meine Tagesplanung und trinke derweil fast einen halben Liter Saft.
Man ist der gut! Den muss ich mir unbedingt nochmal kaufen.
Nach meinem Frühstück schnappe ich mir den Autoschlüssel, den Mom glücklicherweise nicht braucht. (Das einzige, was ich ihr zu dem Thema entlocken konnte war ein genuscheltes: Lass mich schlafen).
Also gut. Das angebliche Date hat sie noch mit keinem Wort erwähnt. Hat sie es über ihr Glück mit Matthias etwa vergessen? Sieht ganz so aus. Stirnrunzelnd verlasse ich das Haus.

Ich starte den Motor und fahre langsam aus der Parklücke, zum Glück ohne das Auto rechts von mir einzudellen. Wäre auch nicht das erste Mal...
Iverness kann ich noch oft genug anschauen. Ich muss hier heute mal raus. Und außerdem ist das Wetter perfekt für einen kleinen Ausflug.
Zum Arzt werde ich morgen gehen.

Ich fahre in die Richtung, in der die Touristenattraktion der Gegend liegt: Loch Ness.
Wenn ich doch schon hier wohne, muss ich dich auch mal dort gewesen sein!
Das wäre ja noch schöner!

Am Loch ist es wunderschön. Nachdem ich das Auto abgestellt habe Laufe ich direkt zum See.
Das Wasser ist verhältnismäßig ruhig und eine leichte Brise weht,sodass meine Haare im Wind flattern. Ich liebe dieses Gefühl. Es ist einfach Freiheit. Zufrieden breite ich meine Arme aus und schließe die Augen. Warum kann das Leben nicht immer so frei sein? Warum muss der Alltag nur so kompliziert sein?
Die Luft ist frisch und riecht nach Wasser. Von weit entfernt höre ich die Straßeund den Lärm, den die Menschheit fabriziert. Aber in den Vordergrund treten Vogelgezwitscher und das Rauschen des Wassers.

Singende Natur!
In unikater Ruh'
Strömst Du dahin.
Ach wie schön es wäre
Gehörte ich dazu.

Würd ich dich nicht zerstören,
So strömtest Du hinfort
Mit deinen Chören.
Und ich mit dir.

Ich öffne meine Augen wieder und nehme meine Arme runter. Es bringt nichts.
Warum ist alles so eingeschränkt?
Ich sehne mich nach Freiheit. Ich will tun können, was ich will. Vor allem aber möchte ich in Moment, dass sich das mit Mary aufklärt. Danach sehe ich weiter, beschließe ich. Hoffentlich bald, denn in mir breitet sich bereits das Gefühl der hoffnungslosen Verzweiflung aus.
Bisher konnte ich die Erinnerungen an meinen Zusammenbruch verdrängen, aber nun, da ich alle Gefühle zulasse, drängen sie sich in den Vordergrund.

Ich war eine Marionette. Ich war gefangen, habe mich selbst von innen heraus zerstört und war unfähig etwas dagegen zu unternehmen. Zwar war es nicht lange, aber selbst die kürzeste Zeit ist in solch einem Fall genug. Undenkbar, das den ganzen Tag zu erleben. Ich weiß: ich würde verrückt werden. Und es würde mir wahrscheinlich nicht einmal etwas ausmachen.

Ohne es wirklich zu wollen erinnere ich mich wieder an das lähmende Gefühl. Ich spüre prompt ein leises Abbild der Glaskugel um mich. Nur ein kleines. Doch es reicht, dass ich mich keuchend zu Boden fallen lasse.
Nein! Einfach, nein! Nicht einmal an solch einen wunderschönen Ort bin ich sicher. Warum, warum nur? Ich verstehe es nicht mehr.
Der Nebel verdichtet sich.
Panisch konzentriere ich mich auf das Gras, auf dem ich liege, um nicht völlig von der Realität abgeschnitten zu werden. Ich muss stark sein!
Ich darf die Kugel nicht gewinnen lassen.
Das ist der letzte wirklich klare und starke positive Gedanke.
Der Rest meiner Gedanken und Gefühle ist negativ. Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit. Übelkeit. Panik. Angst.

Sie kämpfen. Meine Gefühle kämpfen gegen mich und lange hält meine Abwehr nicht Stand.
Ich werde verlieren.

Ich lege im Gras und die Sonne scheint auf mich herunter, ohne dass ich es bemerke.

So bemerke ich auch nicht den Schatten, der auf meinen gebrochenen Körper fällt. Also bleibe ich liegen ohne etwas zu merken. Das Gras wird langsam feucht, ich habe nicht gemerkt wie spät es eigentlich geworden ist. Erst als ich eine laute bekannte Stimme vernehme blicke ich auf.

Was macht der denn hier?
Irritiert schaue ich nach oben. Das hätte ich am wenigsten erwartet. Mit ihm hätte ich am wenigsten gerechnet!

Will er sich über mich lustig machen? Ich bereue so, wie ich mich verhalten habe.
Habe ich gestern etwas vergessen?
Oder will er mir wirklich helfen?

Carbisdale - How to defeat the Spirit of CastlesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt