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"Was um alles in der Welt war das?"
Keuchend hetze ich hinter Matthias her.
"Hey, jetzt bleib doch mal stehen!", ich packe ihn am Ärmel. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die wegrennt. Aber Nein, kaum hat Mary den Raum verlassen, hat Matthias ebenfalls die biege gemacht.
Aber Matthias lässt sich nicht beirren und läuft zügig weiter.
"Nicht jetzt und nicht hier.", das ist das einzige, was er zu der aktuellen Situation von sich gibt.
"Ihr könnt mich noch nicht einfach so schocken und erwarten, dass ich keine Fragen stelle!"
Empört keuche ich noch lauter, als ich es ohnehin schon tue. Das Schloß ist riesig und so langsam bekomme ich Seitenstechen. Wo will er eigentlich hin? Kaum waren wir aus dem Raum wollte er dich von mir verabschieden, einfach so! Wieso genau bringt er mich in eine Situation, die ich nicht verstehe und haut dann ab, ohne mir zumindest zu sagen, was ich jetzt tun soll? Wie komme ich überhaupt nach Hause?
"Matthias!", ich versuche es noch einmal. Keine Reaktion. Dann eben nicht. Ich bin am Ende. Matthias Schritte verhallen in der Ferne, eine Tür geht zu und dann ist hier nur noch Stille.
Total fertig setze ich mich in die Nische neben der Treppe und vergrabe den Kopf in meinen Händen. Warum nur ist das alles so kompliziert?
Warum kann ich nicht einfach mein altes, langweiliges, ereignisloses Leben weiterleben? Warum bin ausgerechnet ich zusammengebrochen und warum musste ausgerechnet ich mir einer lebendigen Toten reden?
Fragen über Fragen, keine Antworten. Ich lasse mich tiefer in meine Nische sinken und ignoriere die leise Stimme in meinem inneren, die mich vor einer vielleicht existierenden Spinne in dieser Ecke warnt. Es ist mir egal.
Ich sitze hier in der Fremde und kann nicht fort.
Ich will zu Mom. Nach Hause.
Was soll der Blödsinn eigentlich? Vielleicht lässt Mom sich noch überreden woanders hin zu ziehen, nach Schweden vielleicht, oder nach Spanien. Insgeheim weiß ich, dass sie hier bei Matthias bleiben will. Was wäre ich für eine Tochter, wenn ich sie von ihrem Glück hier trennen will?
Nein. Lieber bleibe ich hier und unglücklich. Wenn Matthias wenigstens so nett wäre, wie er es am Anfang war! Ich habe mittlerweile einige Zweifel, was ihn angeht.
Ich schlage leicht mit meinem Kopf gegen die Wand, in der Hoffnung ich hätte das alles nicht wirklich erlebt.

Plötzlich fällt mir Marys Kästchen ein. Was da wohl drin ist?
Vorsichtig ziehe ich es aus meiner Tasche. Es ist aus schwarzem Holz und die geschnitzten Initialien M.C. sind fast zur Unkenntlichkeit verblasst. Das einzige, was glänzt, ist der goldene Verschluss, den ich nun mit zitternden Händen zu öffnen versuche. Erst gelingt es mir nicht, doch dann springt der Deckel auf und das Kästchen rutscht aus meinen schweißnassen Händen.
Bewahre es gut, höre ich Marys Stimme in meinem Kopf.

Ehe ich es mir versehe durchdringt das Poltern des Kästchens auf den Stufen die gespannte Stille. Das Geräusch hallt im Turm nach und unwillkürlich ziehe ich den Kopf ein. Hoffentlich hat das niemand gehört.

Stille.

Nach einer weiteren Sekunde, in der ich nicht zu atmen wage, steige ich ungeschickt und völlig verstört aus der Nische.
Ich will nur noch nach Hause und in mein Bett.
Nie wieder gehe ich in irgendein blödes Schloß, nehme ich mir fest vor, stolpere gleich mal über die nächst beste Stufe, sodass ich mich gerade noch am Geländer festhalten kann, um nicht zu fallen.
Ich sammle noch das Kästchen ein und dann gehe ich nach Hause, nehme ich mir fest vor. Und ich komme nicht mehr her. Ich gehe zu einem Arzt, der mich behandelt. Heutzutage kann man ja alles behandeln lassen.
Wer weiß, vielleicht leide ich ja insgeheim an Schizophrenie und merke es nur nicht? Oder ich träume.
Ich schlucke, während ich die Stufen nach unten steige und muss mir einfach an dem Kopf fassen, um zu sehen, ob er noch da ist.
Man ist das gruselig! Die letzten Stunden waren einfach zu viel für mich. Ja, vor nicht allzu langer Zeit wäre ich fast draufgegangen!
Tränen steigen mir in die Augen und ich fange fast an zu heulen wie eine fünfjährige. Nur mühsam kann ich ein Schluchzen unterdrücken, meine Sicht ist bereits verschwommen.
Und da passiert es. Ich übersehe die letzte Treppenstufe und falle zum wievielten Male an diesem Tag hart auf den Steinboden.
Nun hält mich wirklich gar nichts mehr.
Die Tränen kullern aus meinen Augen und ich schniefe. Macht ja nichts.
Hier ist ja niemand, denke ich und bleibe einfach liegen. Mir reichts!

Bis ich plötzlich ein Räuspern höre und eine Hand auf meiner Schulter. Eine warme, angenehme Hand, die beginnt, meinen Rücken in kreisenden Bewegungen zu streicheln.
Ich zucke nur kurz zusammen, dann ist es mir plötzlich egal.
Ich kann einfach nicht mehr. Mit meiner letzten Kraft hieve ich mich hoch und falle der Person um den Hals.
Zwei Arme legen sich um mich und drücken mich fest an die vor mir kniende Person.
Das fühlt sich so unfassbar gut an, dass ich erst richtig anfange zu weinen. Ich weine alles heraus, was mich belastet und verewige es vermutlich mit einer Spur aus Wimperntusche am Shirt meines Retters.
So kommt es mir zumindest vor.
Das ist es, was ich gebraucht habe.
Ich weiß nicht wie lange wir so voreinander knien, ich Rotz und Wasser heulend, mein Gegenüber schweigend und mir den Rücken streichelnd.
Mein Schluchzen ebbt ab.
Irgendwann kann ich durch meine verheulten Augen wieder etwas erkennen, doch ich will hier nicht weg. Ich will weiterhin in diesen Armen bleiben, wo ich mich so geborgen fühle und als loslassen kann. Aber alles muss ein Ende haben, wie mir schmerzlich bewusst wird.
Deshalb drücke ich die Person noch einmal fest an mich und rieche noch ein letztes mal ihren Duft, bevor ich mich losmache, mich aufrapple und beschämt einen Schritt zurück stolpere, die Augen auf den Boden gerichtet.

Eine Zeit lang sage ich nichts und traue mich nicht aufzusehen. Das Schweigen dehnt such aus und als ich gerade die Flucht ergreifen will, höre ich seine tiefe Stimme.
"Alles in Ordnung?"
Unwillkürlich muss ich aufblicken und erschrocken ziehe ich die Luft ein.
Der Typ, den ich gerade noch umarmt habe sieht wahnsinnig gut aus! Seine dunklen Haare bilden einen wunderbaren Kontrast zu seinen warmen hellbraunen Augen, die mich besorgt mustern.
Mir wird leicht schwindelig. Ich hätte nicht gedacht, dass er nur so wenig älter ist als ich, vielleicht gerade einmal drei Jahre. Und an so jemanden habe ich mich geklammert, als würde sie Welt untergehen.
Meine Wangen werden heiß und ich schnappe nach Luft.
"Hör zu", sage ich mit belegter Stimme, "das tut mir wirklich furchtbar leid. Ich wusste ja nicht... ich konnte nicht ahnen..."
Peinlich berührt breche ich mitten im Satz an und starre ihn aus geweiteten Augen an. Was soll ich denn jetzt machen? Was soll ich sagen?
Der Kerl mustert mich noch immer. Dann verzieht sich sein Mund zu einem neuen Lächeln.
"Kein Problem",erwidert er charmant und tritt einen Schritt auf mich zu. "Ich hoffe nur dir ist nichts passiert. Kann ich irgendwie helfen?"
Noch bevor er ausgesprochen hat schüttle ich hastig den Kopf. "Alles gut."
Er blickt mir prüfend ich die Augen und ist schon wieder viel zu nah. Seine Gegenwart hat zwar etwas äußerst beruhigendes, aber trotzdem gehe ich lieber auf Abstand. Ihn muss das ganze sicher ziemlich nerven.
"Tut mir echt leid", sage ich nochmals, während ich rückwärts gehe und fast gegen eine Säule renne. Gerade noch so kann ich verhindern, dass ich nochmals stürze.
"Ganz ruhig. Ich tue dir nichts.", der Typ nimmt mich am Arm und führt mich mit langsamen Schritten in eine Richtung.
"Komm erst mal mit. Wie setzen uns hin und du beruhigst dich erst einmal, ja?"
Panisch schüttle ich den Kopf, reiße mich aber nicht los und lasse mich von ihm abführen.
Ich kann nicht mehr.

Carbisdale - How to defeat the Spirit of CastlesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt