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Prustend fahre ich auf, als mir ein Schwall Wasser über den Hals rinnt. Panisch setze ich meinen Oberkörper auf und bereue es sofort, weil mir schwindelig wird.

Die kühle Abendluft dringt in mein Gehirn und jemand drückt mir ein Handtuch in meine Arme.
Ich fasse mir an den Kopf und sehe Wallace, der sich über mich gebeugt hat.
Besorgt funkeln seine Augen auf mich herab.

"Caro?", fragt er mich und erschöpft lächle ich ihn an, während ich mich besinne.

"Sie ist wach", ruft Wallace jemandem zu und kniet sich neben mich. "Du musst dich abtrocknen. Sonst erkältest du dich."

Jetzt erst sehe ich unsere Umgebung. Ein kleiner Wald grenzt an die Wiese, auf der wir sind und ich fühle mich an den Tag zurückerinnert, an dem ich Paul und Sam getroffen habe. Dann müsste hinter mir... ich drehe den Kopf. Tatsächlich: Carbisdale Castle.

Ein kleiner Gedanke formt sich in meinem Kopf und da fällt es mir wieder ein.

"Was ist mit Mary", frage ich und schaue mich suchend um. "Geht es ihr gut? Ist die draußen?"

Wallace deutet rechts neben mich. Einige Meter weiter steht eine Klappliege, auf der eine regungslose Person liegt. Eine andere Frau sitzt neben ihr... es ist Betty, Marys Schwester. Sie hält ihre Hand.

Entsetzt und ohne auf den aufkommenden Schwindel zu achten schleppe ich mich zu den beiden.
Wenn ich schon ohnmächtig geworden bin, wie geht es wohl erst Mary?

Sie sieht grau aus. Grau, alt und erschöpft. Aber ihre Lippen bewegen sich langsam, während sie mit geschlossenen Augen daliegt. Betty scheint sie zu verstehen.

"Die beiden haben sich ewig nicht mehr gesehen.",  murmelt Wallace in mein Ohr. "Betty hat Mary damals angeschrieen, sie würde das Turmzimmer nie mehr betreten, ehe Mary nicht herausgekommen ist. Sie dachte, Mary würde zu Vernunft kommen, aber es hat nichts gebracht."

Ganz fest halten die beiden sich an den Händen.
"Atmen", höre ich Marys krächzige Stimme. "Ich habe vergessen, was atmen ist."

"Wie lange war ich weg?", möchte ich wissen.
"Wallace sieht mich nicht an. "Zehn Minuten", flüstert er zurück "und es war wirklich gruselig euch beide bewusstlos da raus zu bekommen. Ohne Gran Betty hätte ich es nie geschafft."

Eine Weile schauen wir den beiden Schwestern stumm zu. Es sieht aus wie ein Abschied, auch, wenn ich weiß, dass es ein Wiedersehen nach sehr langer Zeit ist.

"Glaubst du, Mary wird wieder normal?", frage ich Wallace vorsichtig. Ich möchte ihm nicht wehtun.
"Nein." Das einzelne Wort kommt hart über seine Lippen. "Aber vielleicht wird es besser..."
Eine Weile ist es still.

"Caroline", ruft uns Betty zu uns. "Meine Schwester möchte euch etwas sagen."
Ich reiße die Augen auf und blicke hilfesuchend zu Wallace. Der lächelt mich an und wir gehen gemeinsam näher an die Liege heran.

Marys Augen sind noch immer geschlossen, aber das ist mir eigentlich sogar recht.
"Das Kästchen", flüstert Mary. "Unsere letzte Chance. Hast du es dabei?"

Oh Nein! Oh Nein, oh nein, oh nein. Ich denke an das Kästchen, das noch immer in meinem Zimmer in meinem Rucksack ist.

"Jetzt?", frage ich kläglich.

"Jetzt", Mary atmet stockend ein. "Carbisdale... ruft mich. Ich muss wieder hinein. Wir haben nicht viel Zeit..."

Es zu holen würde zu lange dauern. Es gäbe die Möglichkeit uns allen zu helfen und ich...vermassle es einfach. Ich stürze uns alle ins Unglück, denn ich weiß, nochmal wird es nicht funktionieren Mary so gut herauszubekommen. Beim nächsten Versuch könnte sie es bereits nicht mehr überstehen. Sie ist an dieses Gebäude gebunden.

Mist, Mist, Mist!

Eine Träne läuft über meine Wange und hilflos schlage ich die Hände auf die Oberschenkel. Zu Wallace will ich gar nicht erst schauen, denn...

In meiner Hosentasche klimpert etwas. Ich halte die Luft an und erinnere mich an den letzten Abend, als ich das Geheimfach im Kästchen gesucht habe. Ich sehe ganz genau vor mir, wie ich die Kette in meine Hosentasche stopfe, damit ich sie nicht unter irgendeinem Stapel begrabe.

Es ist dieselbe Hose!

Wie erstarrt sitze ich da und...greife mit der Hand in die Tasche.

Ist das Schicksal? Oder einfach nur Glück?

Das sind die Momente in Leben, in denen ich einfach nicht weiß, was das hier alles ist.

Mit bebenden Händen ziehe ich die Kette hervor und hoffe inständig, dass die Truhe nur eine Truhe ist. Hoffentlich braucht Mary die Kette, sonst...

Betty nimmt sie mir aus den Händen und reicht sie Mary, die nun die Augen geöffnet hat.

Wallace eilt hinter die Liege, um sie in eine aufrechtere Position zu bringen, dann schauen wir alle wie gebannt auf Mary.

"Es gibt einen Brief...", beginnt sie. "In ihm stehen ihre Gefühle, ihre letzten Gefühle vor ihrem Tod."
Wir wissen alle von wem sie spricht.
"Ich... habe einen Teil von ihm versteckt", fährt sie fort. "Ich... konnte nicht klar denken... ich... tue das richtige, dass Mary nicht alleine leiden muss." Unsere Mary schnieft kurz,  fängt sich aber wieder. Dann nimmt sie die Kette und spielt am ihr herum. "Ohne es mir bewusst zu sein, wusste ich wohl, dass es ein Fehler ist, den Brief zu vernichten..."
Es staubt in ihren Händen und ich sehe, dass die Kette geöffnet ist.

Nicht das Kästchen hatte ein Geheimfach. Die Kette!

In ihr liegt tatsächlich ein kleiner Schlüssel.

Ich halte die Luft an.

"Nimm ihn", flüstert Mary mir zu. "Nimm ihn, bevor ich es mir anders überlege..."

Ich fasse an die Kette und nehme sie ihr aus den kalten Händen. Währenddessen schaue ich in ihre Augen und sehe, wie sie mir kaum merklich zunickt. Sie übergibt mir die Verantwortung.

"Wallace", fährt sie fort. "Der Brief ist in Marys Geheimgang. Er ist nicht weg. Denk an die Statue mit dem halben Ohr."

Wallace runzelt die Stirn. "Der einohrige...ich verstehe." Er nickt knapp.

Dann steht er auf. "Komm Caro. Lass uns diese Sache zuende bringen." Er greift nach meiner Hand und zieht mich hoch.

"Kommt gesund und heil wieder", ruft uns Betty hinterher. "Passt auf euch auf!"

Wallace nickt vor sich hin. "Werden wir", ruft er zurück und wir machen uns wieder auf den Weg zum Schloss.

Noch einmal... einmal da rein. Das werde ich schaffen!

Adrenalin schießt durch meine Adern und ich straffe die Schultern. Es geht los.

Carbisdale - How to defeat the Spirit of CastlesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt