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"...und er hat tatsächlich Tee besorgt, ist das zu fassen? Früchtetee! Meine Lieblingssorte!" Ich verkneife mir ein Grinsen. Schon seit einer Viertelstunde schwärmt Mom ununterbrochen von ihrem Date am Vorabend. Ohne Pause, ungelogen! Den ganzen Morgen ist sie schon gut drauf und sie hat sogar Frühstück gemacht! Frühstück!

Die beiden haben wohl in Matthias Wohnung zu Abend gegessen und geredet. Mom führt sich auf, als wäre es eine Hochzeit gewesen. Manchmal frage ich mich wirklich, wer von uns beiden die Altere ist.

"Und weißt du was?", erhebt Mom ihre Stimme. Immer diese rhetorischen Fragen... "er hat das Ganze nicht nur geplant und bezahlt, sondern er war echt süß und ein echter Gentleman. Sogar meinen Stuhl hat er mir zurechtgerückt! Der Typ ist einfach ein Traum." Ja, das habe ich bemerkt. Ein Traum mit einer scheußlichen Katze...

Mom ist selten so extrem euphorisch. Aber wenn sie etwas gepackt hat, dann lässt sie es nicht mehr los.

Sogar für das Schloss, in dem wir uns befinden, hat sie keine Augen.
Dabei ist Carbisdale Castle doch wunderschön! Aber wie sagt man so schön? Liebe macht blind.

Nicht zu fassen wie blind! Ich kann es nicht fassen, aber Mom hat tatsächlich noch keinen einzigen Kommentar zu der Schönheit der Umgebung rausgehauen. Das Loch, an dem wir vorbeigefahren sind hat sie mit keiner Silbe erwähnt und auch sonst nichts.
Die hübschen Türmchen, der sanfte Wald, der das Castle umgibt, der schöne Ausblick auf die schottische Ebene, die prachtvolle Eingangshalle, durch die wir eben gegangen sind...
Nein, sie schwärmt nur vom gestrigen Abend.

"Morgen wollen wir uns wieder treffen.", verträumt schaut sie aus einem großen Fenster, ohne etwas zu sehen. Ich sage es ja: die hat es so richtig erwischt.

Nicht einmal die wertvollen Statuen, an denen wir vorbeikommen, interessieren sie. Ich bleibe an einer Infotafel stehen. 

"Und er zeigt mir seine Goldfische!" Jetzt habe ich wirklich Mühe mein Lachen zu verkneifen. Da hat sich Matthias wirklich richtig ins Zeug gelegt.

Als Mom dann kurz auf die Toilette verschwindet kann ich nicht anders, als aufzuatmen. Ich finde es klasse, dass es so gut läuft, gönne es Mom von Herzen und höre ihr auch gerne zu. Aber gerade kann ich mich schwer darauf konzentrieren.

Seit wir hier sind ist da nämlich wieder dieses Gefühl. Ich könnte schwören, dass es exakt dasselbe ist, wie im anderen Castle vor zwei Tagen. Mir ist leicht übel und dass ich dauernd zuhören und aufmerksam sein muss bereitet mir diesen seltsam drückenden Kopfschmerz.
Schon wieder.

Langsam wird es mir unheimlich und schleichend nähert sich mir die Panik, die ich bisher noch unterdrücken konnte. Aber keine Chance. Ich weiß: sobald ich nicht mehr davon überzeugt bin diese Nadeln unterdrücken zu können, werden sie meine Schwäche nutzen und angreifen.

Ich will sie nicht spüren, will nicht in Panik geraten und durchdrehen. Ich darf die Kontrolle nicht verlieren! Ich atme tief ein und lehne mich leicht an die Wand. Sie ist kühl und alt und wunderbar rau, sie wird mir helfen. Wie ein Mantra versuche ich diesen Satz in meinen Kopf zu bekommen. Unter normalen Umständen hätte ich mir vermutlich selbst einen Vogel gezeigt, aber hier und jetzt reicht es mir. Vielleicht sollte ich mal zum Arzt gehen.

Zunächst einmal muss ich hier aber raus! Das hat irgendwas mit diesen Schlössern zu tun. Ich glaube nicht an Übernatürliches, aber in dem Fall...Hoffentlich kommt Mom bald wieder.

Um mich abzulenken schaue ich mir die Portraits im Treppenhaus genauer an. Ehemalige Bewohner und Angehörige hängen hier, Fotografien und Kopien von Bildern. Alles fein säuberlich eingerahmt. Die Infotafel lese ich mir gar nicht erst durch, sondern schaue lieber die Portraits an.

Carbisdale - How to defeat the Spirit of CastlesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt