21

17 4 0
                                    

"War das dein Freund?", natürlich ist das die erste Frage, die Mom mir stellt, als sie die Wohnung betritt.

Ich habe mich vor den Fernseher gesetzt, den Mom im Laufe des Tages wohl installiert hat und schaue nach, was die Schotten so im Fernsehen sehen. Das Interessanteste bis jetzt waren die Simsons und die fand ich Amerika schon langweilig.

Mittlerweile habe ich einen Kultursender gefunden und schaue bärtigen Männern im Schottenrock zu, wie sie versuchen Baumstämme zu werfen. Superspannend. Man munkelt ja, dass Schotten unter ihrem Rock keine Unterwäsche tragen. Ich frage mich, ob das stimmt. Ob Wallace auch so einen Quilt hat?

Zum Glück lenkt mich Mom von meinen Gedanken ab. Oder ist das eher schlecht?

"Ich habe keinen Freund", versichere ich ihr und schaue wieder auf die grünkarierten Typen. Der eine spielt nun auch noch Dudelsack. Grässlich, dieses Quäken. Damit könnte man Marys Geist sicher auch vertreiben. Mom setzt sich zu mir aufs Sofa und ich sehe aus den Augenwinkeln, wie sie auf den Fernseher schaut. 

"Meine Güte", fragt sie entgeistert, "Was schaust du denn an?"

"Das ist die Kultur unseres Landes, ich bilde mich fort", erkläre ich ihr ungerührt. "Wir müssen uns anpassen. Warte mal ab, Matthias hat sicher auch einen Schottenrock in seinem Kleiderschrank. Wusstest du, dass die Schotten traditionell in ihren Röcken heiraten?" 

Erwartungsvoll sehe ich zu ihr rüber und ihr Gesichtsausdruck wechselt von Unglauben zu blankem Entsetzen. "Was?", fragt Mom erschrocken und ich kann mir ein kleines Kichern nicht verkneifen. Wütend schnaubt Mom, als sie mich durchschaut hat. "Das ist nicht lustig, Caro", fährt sie mich an. Dann schaut sie zurück zum Fernseher.

"Grauenvoll", murmelt sie vor sich hin. Wie gebannt sehen wir zu, wie ein bärtiger Hüne den Baumstamm mit aller Kraft über die Linie wirft. Die Zuschauer jubeln und der Dudelsackspieler rastet so aus, dass die Blasrohre seines Instruments wild umherschwingen.

"Er sieht ein bisschen aus wie eine Qualle", stelle ich fest und betrachte fachmännisch das Instrument. 

"Es hört sich auch so an", sagt Mom.

Wir schauen uns an und lachen.

"Ach Caro, jetzt sei nicht mehr böse"; sagt Mom bettelnd und schaut mich flehend an. Anscheinend ist sie von selbst darauf gekommen, warum ich sauer war.

"Ich sage dir Bescheid, wenn ich nachts nicht komme", verspricht sie mir. "Das gestern war eine Ausnahme." Ich lächle sie an und sie weiß, dass ich ihr verzeihe. Ich kann ihr ohnehin nicht lange böse sein. Ein bisschen aufziehen möchte ich sie aber trotzdem.

"Was habt ihr gestern Nacht so getrieben , wenn ich fragen darf?", gespielt streng schaue ich sie an. "Irgendwelche Beichten?"

Ertappt schaut Mom mich an und ich muss lachen. "Schon gut, sag mir vor der Hochzeit aber Bescheid", flöte ich und sie stupst mich an: "Du auch."

Entspannt sitzen wir vor dem Fernseher und ich wünsche mir, es wäre immer so. Keine Spur vom stressigen Alltag, von Typen, vom geheimnisvollen Schottland.

Wie der Schlag trifft es mich plötzlich wie aus dem Nichts.
Geheimnisvoll.
Das Kästchen von Mary, Betty, keine Ahnung von wem. Vielleicht hat es ja ein Geheimfach! Ein Teil von mir schlägt sich die Hand vor den Kopf für diesen klischeehaften Einfall. So ein Blödsinn! Eigentlich.

"Komme gleich wieder", murmle ich und husche aus dem Wohnzimmer zu der Tasche, in der ich das Ding verstaut habe. Hastig durchwühle ich sie und halte das Ding nur Sekunden später in der Hand. Die Kette ist immer noch darin. Der Anhänger besteht aus einem runden Kreis mit seltsamen Zeichen. Wahrscheinlich irgendwelche Piktogramme. Ich stecke sie in meine Hosentasche und untersuche die Kiste. Eigentlich sieht sie ganz normal aus, ja, wie eine Kiste eben. Braun.
Ich nehme den doppelten Boden heraus und klopfe probeweise mal dagegen. Der war bestimmt nur dazu da, dass Zettel und Kette nicht herausfallen.
Mit meinem Fingernagel taste ich die Ränder des Bodens ab. Aber der scheint nicht doppelt doppelt zu sein. Ja, selbst wenn da ein Geheimfach drin ist, es wäre wohl sehr klein, denn die Wände des Kästchens sind wirklich sehr dünn. Noch einmal klopfe ich hoffnungsvoll gehen den Deckel, aber es bringt nichts. 

Mürrisch verstaue ich das Ding wieder. War ja klar. Was habe ich mir auch dabei gedacht? Langsam werde ich wirklich paranoid.

Während ich mich wieder ins Wohnzimmer zu Mom aufs Sofa setze, muss ich noch an Carbisdale denken. Ich will dieses Schloss ja gar nicht von Marys Geist befreien, sondern will durch Schlösser gehen können, ohne umzukippen. Selbst die Gedanken an die erdrückenden Gefühle...

Ich spüre tatsächlich die Gefühle einer anderen Person! Krass! Die Vergangenheit kann ich nicht ändern. Aber was sonst? Wird es besser, wenn ich das trainiere? Irgendwie bezweifle ich das.
Ich weiß: ich muss nochmal in dieses Schloss, nach Carbisdale zu Wallace Großmutter. Ich kann diesem Thema nicht den Rücken kehren.

Mein Atem wird schwer, als ich an die Gänge denke. Ob die Anfälle tödlich sind? Bisher habe ich überlebt, aber wie lange noch? Wallace hat mir nichts von Toten erzählt...

Fühle meinen Schmerz, diese Worte habe ich gehört, bevor ich in Carbisdale in Ohnmacht gefallen bin. Die echte Mary Caroline Mitchell wurde in Carbisdale gefangen gehalten. Von ihrem Mann und dem Sohn getrennt.
Sie war verbittert und konnte nicht mehr.

Cawdor Castle - Matthias wohnt dort. Marys Fotoalbum ist dort... bestimmt hat sie dort einmal gelebt.
Carbisdale - das schöne Schloss, in den Mary gefangen war.

Vielleicht hilft es tatsächlich, wenn ich versuche sie zu verstehen. Es klingt konfus, aber die hätte bestimmt jemandem zum Zuhören gebraucht. Vielleicht kann ich heute noch etwas verändern, indem ich ihr Geheimnis aufdecke. Ich muss es versuchen, auch wenn es schwachsinnig zu sein scheint.

Irgendwie ist Mary ein Teil von mir, schließlich beeinflusst sie mich, sobald ich ein Castle betrete.

Da sieht man mal wieder wie viel es bringt, einfach nur logisch nachzudenken. Ich habe schon ein viel besseres Gefühl und ich will es schaffen. Ich möchte Mary ihren Frieden schenken, den sie verdient hat.

Was du denkst, ist Wirklichkeit.

Oft ist die Lösung da, aber wir sehen sie nicht.

Carbisdale - How to defeat the Spirit of CastlesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt