Kapitel 2

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Eine Woche später standen Julia, Britta und Dennis an Katjas Grab auf dem Friedhof. Der Pfarrer hatte eine lange Trauerrede gehalten, in dem er von einem großen Unglück sprach, das über Katjas Familie gekommen sei.
Julia warf einen Blick auf Katjas Mutter, leichenblass stand sie, auf den Arm ihres Mannes gestützt, direkt vor dem offenen Grab.

„Wie konnte das nur passieren?“, fragte Julia sich immer wieder. „Hätten wir doch nicht ohne sie nach Hause fahren sollen? Vielleicht wäre sie dann nicht an diesem plötzlichen Herzversagen gestorben!“

Der Pfarrer hatte nun seine Rede beendet und die Trauergäste traten an das Grab und warfen kleine Blumensträuße hinein.
Britta hatte sich weinend an Julias Arm geklammert. Julia kramte in ihrer Tasche und reichte der Freundin ein Taschentuch, welches Britta dankend annahm. 

Julia warf noch einen letzten Blick in das offene Grab. Sie konnte es sich kaum vorstellen, dass ihre beste Freundin dort unten in dem Sarg lag. 
Die letzte Beerdigung, auf der sie gewesen war, war die ihres Großvaters vor ein paar Jahren gewesen. Bereits damals hatte sie diesen Anblick eines offenen Grabes mit einem Sarg als gespenstisch empfunden.

„Geht ihr beiden noch mit zum Leichenschmaus?“, fragte Dennis die beiden Mädchen.
„Musst du so geschmacklos sein und das so nennen?“, fuhr Britta ihren Freund an. „Entschuldigung, das tut mir leid!“, murmelte Dennis. 
Ganz offenbar fühlte auch er sich nicht wohl in seiner Haut.

Gemeinsam fuhren sie im Wagen von Dennis zu der Gaststätte, in der man sich nach dem Begräbnis zu einem gemeinsamen Essen versammelte. Es gab Aprikosen- und Apfelriemchenkuchen * sowie belegte Brötchen. Julia sah einen entfernten Cousin von Katja,der sich sämtliche Mettbrötchen griff und diese auf seinem Teller stapelte.
„Die mag ich am liebsten!“, sagte der Mann und biss herzhaft herein. Seine Mutter saß neben ihm und lachte. „Mein Junge hat eben einen gesegneten Appetit!“

„Mit der Bezeichnung Leichenschmaus hatte Dennis gar nicht mal so unrecht,“ dachte Julia wütend.
“Denken die, das ist ein nettes Kaffeetrinken hier? Warum interessiert sich niemand außer uns und ihren Eltern mehr für Katja?“

Sie wandte sich an Britta, die leichenblass zwischen ihr und Dennis saß.
„Sollen wir raus gehen?“, fragte sie ihre Freundin leise. 
Diese nickte, und gemeinsam verließen die drei jungen Leute die Gaststätte. „Wie konnte so etwas nur passieren?“, fragte Britta auf einmal und begann zu weinen. Dennis nahm sie in die Arme und versuchte sie zu trösten.

„Ich frage mich auch die ganze Zeit, wieso Katjas Herz auf einmal stehen geblieben ist. Ich meine, sie war kerngesund und hat auch keine Drogen oder so etwas genommen,“ sagte Julia.

„Ich habe von Sportlern gehört, denen das ganz plötzlich passiert sein soll,“ meinte Dennis nachdenklich. „Aber was genau ist eigentlich mit diesem Sebastian, der bei ihr war, als es passierte?“
„Vielleicht ist Katja ja gar nicht an Herzversagen gestorben, immerhin war sie erst zwanzig, und dieser Kerl hat ihr in Wahrheit etwa angetan,“ sagte Britta auf einmal aufgebracht.

Julia schüttelte den Kopf. „Nein, da tun wir diesem Sebastian Unrecht. Ich habe gestern mit einem Onkel von Katja gesprochen, und der meinte, die Polizei hätte zuerst sogar gegen Sebastian ermittelt, doch als der Gerichtsmediziner dann festgestellt hat, dass Katja ohne Fremdeinwirkung.... gestorben.....ist....“ 
Julia konnte nicht mehr weiter sprechen. Was redete sie da überhaupt? Katja war doch kein Fall aus einem Kriminalfilm, sondern ihre beste Freundin!
Sie schluckte ein paarmal, doch dann begann sie weiter zu sprechen. „Auf jeden Fall hat Sebastian überhaupt nichts davon mitbekommen, als es geschah. Er war ziemlich betrunken und ist gestolpert, er hat sich den Kopf an einem Blumenkübel angestoßen und ist erst im Krankenwagen wieder zu sich gekommen, als schon alles vorbei war. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn hat die Polizei auf alle Fälle eingestellt.

Nun konnte Julia ihre Tränen nicht mehr zurück halten. „Wir hätten nicht ohne Katja gehen sollen! Wenn sie mit uns gekommen wäre, dann könnte sie vielleicht noch leben, wir hätten doch gemerkt, wenn es ihr schlecht geworden wäre oder so etwas.“

„Ich finde es fast am schlimmsten, dass sie ausgerechnet vor dieser unheimlichen Statue vor der Kirche sterben musste,“ sagte Britta. 
„Vorhin habe ich auf der Toilette ihre Mutter zu einer Frau sagen hören, dass Katja so verängstigt ausgesehen habe. Fast so, als sei sie vor Angst gestorben.“
„Aber das ist doch Unsinn!“, mischte sich nun Dennis ein. „Glaubt ihr vielleicht, diese Statue ist zum Leben erwacht und hat Katja zu Tode erschreckt?“
„Du hast wirklich ein unsagbares Taktgefühl!“, fuhr Britta ihren Freund an. 
„Dafür redet ihr hier die ganze Zeit nichts als Unsinn,“ entgegnete Dennis.
„Nun streitet euch doch nicht,“ bat Julia. Ihre beiden Freunde schwiegen.

Am späten Nachmittag machte Julia sich noch einmal allein auf den Weg zum Friedhof. 

Katjas Grab war inzwischen zugeschaufelt und mit den von den Trauergästen gespendeten Kränzen und Blumenschalen geschmückt worden.
Julia griff an die Schleife eines Kranzes und zupfte sie zurecht. Der Kranz bestand aus weißen Lilien, das waren aus welchen Gründen auch immer Katjas Lieblingsblumen gewesen.

„In ewiger Freundschaft, Julia, Britta und Dennis“, stand auf der Schleife.

Auf einmal hatte Julia das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und sah in einiger Entfernung tatsächlich jemanden stehen.
Es handelte sich um einen jungen Mann in ihrem Alter, der ihr irgendwie bekannt vor kam. Sie nickte ihm zu, doch er grüßte sie nicht zurück und starrte lediglich auf das Grab.

Dann drehte er sich um und ging davon.

Auf dem Weg zu ihrem Auto überlegte Julia fieberhaft, wer der junge Mann gewesen sein konnte. „Vielleicht war es ja ein Verwandter oder irgend ein One-Night-Stand von Katja,“ dachte sie. Letzteres würde auch erklären, warum er ihr vage bekannt vorgekommen war. Immerhin war Julia fast jedes Mal dabei gewesen, wenn Katja jemanden in der Disko kennen lernte.

Sie grübelte noch eine Weile nach, dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. 
„Natürlich, jetzt weiss ich wieder, wer der Kerl war,“ dachte sie mit einem Anflug von Ärger. „Was hat dieser Verlierer auf Katjas Beerdigung zu suchen?“

Bei dem jungen Mann hatte es sich um Jonas gehandelt, Jonas Schneider, einen ehemaligen Schulkameraden aus der Realschule, mit dem nie irgend jemand etwas zu tun haben wollte, am allerwenigsten die hübsche Katja und ihre Freundinnen.
Im Gegenteil, sie hatten sich stets über den schüchternen Jonas, der zudem in der Schulzeit auch noch unsagbar unter Akne gelitten hatte, lustig gemacht. „Pickelface“ war sein Spitzname gewesen. Außerdem er ein hässliches Muttermal unter seiner Schulter gehabt und da sie ihn sowieso nicht leiden konnten, hatte es Raum für weiteren Spott geboten. Abartig hatte dies ausgesehen, und seit seiner ersten Sportstunde, in der Jonas sich umziehen musste, hatte man über ihn gelacht.

„Immerhin sind seine Pickel mittlerweile verschwunden, er sah ja inzwischen fast ansehlich aus,“ dachte Julia.

Sie machte sich auf den Heimweg und dachte an den morgigen Tag. Da würde sie ihre Oma besuchen. Sie freute sich darauf, denn mit ihrer Oma konnte sie manchmal besser über manche Dinge reden als mit ihren Eltern oder ihren Freunden. Sie sehnte sich danach, dass ihre Oma ihr Kakao kochen und sie trösten würde.

Als Julia nach Hause kam schlug sie die Tageszeitung auf, die sie aufgrund der Beerdigung am Vormittag noch nicht gelesen hatte. 
Flüchtig überflog sie die Seiten der Zeitung, doch an einem Artikel blieb sie mit vor Schreck geweiteten Augen hängen.

„Tote Schülerin vor Kirche aufgefunden,“ stand dort mit großen Buchstaben. Aufmerksam und ungläubig zugleich las sich Julia den Artikel durch:

Am Montag morgen fanden Schüler der Grundschule St. Martin die Leiche der 17-jährigen Stefanie R. Vor der Kirche St. Andreas. Ganz offenbar starb die junge Frau bereits in der Nacht zuvor an einem unerwarteten plötzlichen Herzversagen, wie es hin- und wieder auch bei jungen Menschen in Ausnahmefällen vorkommen kann. Bis zu diesem Tag war Stefanie R. nach Aussagen ihrer Eltern kerngesund, sie hatte am Vorabend ihres Todes eine Freundin in der Innenstadt besucht und war nach deren Aussagen auf dem Heimweg...

Julia knüllte die Zeitung zusammen, sie wollte nicht mehr weiter lesen. „Dieser Stefanie ist ja genau das gleiche passiert wie Katja,“ dachte sie mit wachsendem Entsetzten. 

In dieser Nacht lag Julia noch lange wach und grübelte über die Ereignisse der letzten Tage nach. Als sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, träumte sie von einer unheimlichen Statue mit roten Augen, die sich bewegte und ein höhnisches Lachen ausstieß....

Julia schreckte hoch und sah auf ihren Wecker. „Vier Uhr morgens, in zwei Stunden muss ich aufstehen,“ dachte sie. 
Sie setzte sich die Kopfhörer ihres Discmans auf. Schlaf würde sie in dieser Nacht sicherlich nicht mehr finden, denn jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie die unheimliche Statue vor sich.

Geheimnis der alten StatueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt