Dendro - Anflug

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Anflug

Mil reibt sich den Schlaf aus den Augen. Andrej musste sie schließlich fast zwingen, sich auch noch für einige Stunden hinzulegen, so vertieft war sie in die Auswertung ihrer Daten. Aber nun steht die Landung unmittelbar bevor und dieses Ereignis will sie auf gar keinen Fall verpassen. Reicht die Zeit noch für eine Dusche? Sie liebt die Recyclingdusche nicht besonders. Aber Wasser ist kostbar und lieber einige Minuten im Sprühnebel als gar nichts. Sie bindet ihr feuchtes Haar im Nacken zusammen, während sie den Kommandoraum betritt. Die anderen sind bereits versammelt. Koshi blickt sie streng an. Er mag Unpünktlichkeit nicht.

«Wenn jetzt alle hier sind, können wir ja beginnen. Dray, du fliegst die Landung. Ich gebe dir Backup und die Navigation. Andrej, dich will ich auf dem dritten Platz haben, du bist verantwortlich für die Wahl des Landeplatzes. Carlos und Mil, ihr geht hinüber ins Labor. Ihr könnt von da aus auf dem Schirm zuschauen. Gibt es noch etwas was wir wissen müssen, bevor wir runtergehen, Mil?»

«Ich nehme an du hast meinen und Andrejs Bericht gelesen?»

Koshi nickt. Er ist in solchen Dingen gründlich. Das Wichtigste sind im Moment Zusammensetzung und Aufbau der Atmosphäre. Davon hängen Eintrittsgeschwindigkeit und -winkel ab. Mil lieferte die Messdaten für Andrejs Berechnungen. Sie wirft dem Astrophysiker einen Blick zu. Andrej nickt zuversichtlich. Der Kommandant bemerkt den kurzen Austausch und wertet ihn als Bestätigung.

«Also dann, los gehts. Emerald wartet auf uns.»

Auf dem Weg ins Labor wendet sich Mil mit der Frage an Carlos, die ihr keine Ruhe lässt.

«Hast du den Grund für diese seltsame Störung der Treibwerke gefunden?»

Der Techniker hat dunkle Ringe unter den Augen. Offenbar hat er noch weniger geschlafen als Mil. Er schüttelt verneinend den Kopf.

«Ich habe mit Koshi und dann mit Dray jede Komponente mindestens dreimal kontrolliert. Es scheint alles in bester Ordnung zu sein. Ich kann mir das Ganze nur noch damit erklären, dass das Kontrollgerät für die Harris-Werte eine Fehlfunktion hatte.»

Mil weiß nicht so recht, ob das ihre Angst beruhigt oder verstärkt. Sie streckt sich in ihrem Sessel aus und lässt mit gerunzelter Stirn das Sicherheitsnetz einschnappen. Aber bald hat sie keine Zeit mehr, sich mir Carlos' mysteriöser Fehlfunktion zu beschäftigen. Auf dem Schirm ist Emerald zu sehen, der grüne Planet. Sie bewegen sich langsam von seiner Nacht- auf die Tagseite. Türkisblaue Wolkenbänder funkeln im Licht des zentralen Sterns des Systems, der nun strahlend über dem Planetenrand aufgeht. Unbewusst hält Mil den Atem an, während Emerald mehr und mehr ins Licht rückt. Die zusammenhängende Vegetationsdecke schimmert in allen denkbaren Grüntönen und bildet einen starken Kontrast zum rötlichen Mond, der nun am linken Rand des Schirms sichtbar wird. Der zweite Mond müsste demnächst auch ins Bild kommen. Da ist er schon, blaugrau, von unzähligen Kratern übersät. Mil kann sich am Spiel der Farben nicht sattsehen. Über das Kommsystem hört sie leise die Stimmen von Koshi und Dray, die das Schiff kompetent näher an den Planeten heranführen. Sogar Carlos scheint seine Sorge um die Maschine zu vergessen. Er murmelt einige unverständliche spanische Worte, aber Mil begreift den Sinn auch so. Der Techniker ist genauso überwältigt wie sie selbst. Schuldbewusst versucht sie, zumindest einen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf ihre Aufgabe als Wissenschaftlerin zu konzentrieren. Natürlich wird der Anflug aufgezeichnet, aber sie will trotzdem ihre eigenen Beobachtungen festhalten. Leise, um Carlos möglichst nicht zu stören, beginnt sie, ihre Eindrücke mit dem Einbaumikrophon des Sessels aufzuzeichnen. Andrej tut drüben dasselbe, da ist sie sich sicher.

Dies ist Mils erster Raumflug. Trotzdem hat sie sich schon hunderte von Ansichten von Planeten aus dem All angesehen. Nur wenige vermochten sie so zu fesseln wie QRX-57. Im Näherkommen kann sie mit eigenen Augen erkennen, was ihr bereits die Instrumente verraten haben. Ganz anders als auf der Erde gibt es hier keine erkennbaren Kontinente, keine klare Trennung von Wasser und Land. Fast die ganze Planetenoberfläche ist von Pflanzen bedeckt, nur gerade in den Polarregionen scheint das Klima für den Bewuchs zu kalt zu sein. Es gibt Stellen, wo die Vegetation eine satte dunkelgrüne Färbung hat, auf anderen Flächen dominiert ein frühlingshaftes Hellgrün. Inzwischen lassen sich sogar die zahllosen Wasserläufe unterscheiden, die wie ein endloses Netz von Kanälen die Oberfläche überziehen und Inseln mit unterschiedlichem Bewuchs voneinander trennen. Mil seufzt zufrieden auf. Das ist besser, als sie zu träumen gewagt hat. Emerald ist ein Paradies für eine Botanikerin.

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