Dendro - Waldrand

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Waldrand

Koshi hat die Crew im Aufenthaltsraum zu einer Lagebesprechung zusammengerufen. Andrej verteilt mit abwesendem Gesichtsausdruck Kaffee. Mil nimmt mit einem Nicken ihren Becher entgegen. Sie weiß, dass sich der Astrophysiker - wie sie selbst - immer noch mit dem Rätsel der verschwundenen Baumstämme beschäftigt. Carlos holt das Bild der Außensensoren des Schiffs auf den Hauptschirm. Die Baumriesen bilden nun einen schön geschlossenen Waldrand rings um die verbrannte Fläche. Über Nacht ist die ganze Zerstörungszone von der Druckwelle ihrer Landung verschwunden. Dray nimmt einen Schluck Kaffee, beide Hände um den Becher gelegt.

«Wie kann so etwas passieren? Wann ist es euch zum ersten Mal aufgefallen?»

Die Stimme der Pilotin ist noch heiserer als sonst. Mil fragt sich nicht zum ersten Mal, womit Dray sich wohl die Stimmbänder so zerstört hat. Dann schiebt sie diesen zusammenhanglosen Gedanken zur Seite und konzentriert sich auf Koshis Bericht von der Entdeckung.

«Wir hatten wieder diesen dichten Nebel heute Morgen. Deshalb haben wir erst etwas bemerkt, als wir den Waldrand erreichten. Zuerst dachten wir, die Stämme seien jetzt einfach ganz umgeknickt und würden im Sumpf liegen. Wir haben aber keinen einzigen gefunden. Da wir schon draußen waren, entnahmen wir trotzdem noch eine Serie Bohrkerne aus lebenden Stämmen. Als der Nebel sich auflöste, kontrollierten wir noch einmal den Waldrand. Es ist als hätte es die toten Stämme nie gegeben. Sie sind in der Nacht spurlos verschwunden.»

«Sag mal, hätten deine mobilen Sensoren das nicht aufzeichnen müssen, Andrej?»

Andrej nimmt sich nicht die Zeit, Carlos' Frage zu beantworten. Mit flinken Fingern ruft er die Bilder der mobilen Sensoren ab. Derjenige am Fluss zeigt immer noch tiefblaues Wasser, das bekannte Bild. Das gleiche gilt für die etwas tiefer im Wald platzierten Sensoren. Die beiden am Waldrand liefern aber keine Daten. Andrej ruft die Aufzeichnungen der letzten Nacht ab. Er schaltet die Bilder aller Kameras parallel auf den Hauptschirm und spielt sie in mehrfacher Geschwindigkeit ab. Mil hat ein mulmiges Gefühl. Schweigend beobachtet sie, wie die Sonne untergeht und nach einer kurzen Dämmerung Dunkelheit hereinbricht. Durch den Restlichtverstärker sind die Bäume recht deutlich zu erkennen. Dann, kurz vor Mitternacht, steigt der Nebel auf. Die beiden Waldrandkameras zeigen, wie die umgestürzten Stämme langsam im Nebel versinken und sich bald nur noch erahnen lassen. Dann bricht die Aufzeichnung beider Sensoren gleichzeitig ab.

«Warum ist uns nicht gleich aufgefallen, dass die Sensoren nicht mehr funktionieren?»

Koshi klingt verärgert. Er steht auf und beginnt in dem zu engen Raum auf und ab zu gehen. «Irgendetwas hat unsere Kameras ausgeschaltet und diese ganzen riesigen Bäume weggeräumt. Und wir wissen nicht, wer oder was es war.»

Andrej spult die Aufzeichnungen mehrmals vorwärts und rückwärts durch. Mil versucht, darauf etwas Auffälliges zu entdecken. Schließlich macht Dray die entscheidende Beobachtung.

«Andrej, geh nochmal zurück bis vor Sonnenuntergang... Und nun vergrößere das Bild vom Außensensor des Schiffs, der den Waldrand von hier aus zeigt... Gut, und nun blende das Bild des gleichen Sensors von heute Morgen darüber. Da! Seht ihr es?»

Carlos' deftiger spanischer Fluch drückt ziemlich das aus, was Mil empfindet. Der Waldrand ist seit gestern Abend dem Schiff ein gutes Stück näher gerückt. Es ist, als wäre der Zerstörungsgürtel über Nacht von neuen Bäumen überwachsen worden. Allerdings sind diese Bäume genau so hoch wie ihre Nachbarn tiefer im Wald. Der Kommandant löst sich als erster aus seiner Starre.

«Carlos, wirf die Triebwerke an. Wir starten nicht, aber ich will für Überraschungen bereit sein. Die Plasmakammer muss Betriebstemperatur aufweisen, das dauert mehrere Stunden. Bis auf weiteres keine Landausflüge mehr. Dray, ist das Shuttle bereit?»

«Überprüft, verproviantiert und startklar.»

«Gut. Heute ist es zu spät. Aber morgen unternehmen wir diesen Erkundungsflug. Ich will mir das aus der Luft ansehen und außerdem unseren Aktionsradius ausdehnen. Mil und Andrej, ihr macht mit euren Untersuchungen weiter. So wie es aussieht, gibt es auf diesem Planeten mehr Leben, als wir vermutet haben. Irgendwo muss es darauf einen Hinweis geben.»

Während Carlos an der Hilfsstation die Startsequenz eingibt, erklärt Mil knapp ihren jüngsten Verdacht zu den zyklischen Klimaschwankungen und der Artenarmut. Koshi runzelt die Stirn.

«Kann es sein, dass dieser Wald eine kultivierte Plantage ist? Keine Schädlinge, Artenarmut...»

Er wird von Carlos unterbrochen. Die dunkle Haut des Technikers ist ungewöhnlich bleich.

«Capitán? Die Maschine startet nicht. Wir haben keine Energie im Mellow-Speicher.»

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