Dendro - Koshi

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Koshi

Seit ihrer Entdeckung vom vorigen Morgen ist Mil unruhig und kann sich nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie versucht, all ihre Daten zu ordnen und verschiedene Arbeitshypothesen zu überprüfen. Sie hofft, irgendwo eine Erklärung für das Vorrücken des Waldrandes zu finden und rätselt immer wieder an der verblüffenden Artenarmut herum. Vermutlich hat der Zylkus der Kaltphasen etwas damit zu tun. Und als dritten Themenkomplex gilt es den ungewöhnlichen Aufbau des Markbereichs der Bäume weiter zu erforschen. Einzig mit Koshis Theorie, dass es auf dem Planeten eine intelligente Lebensform gibt, die sich bisher nicht gezeigt hat, kann sie sich nicht anfreunden. Abgesehen davon, dass sie immer noch keine tierische Lebensform nachweisen kann, hätten intelligente Aliens inzwischen genug Zeit gehabt, ihren Landeplatz aufzusuchen.

Ein Summton lässt sie aufblicken. Es ist schon wieder Zeit für den Statusreport. Sie unterbricht ihre Arbeit, um kurz mit Koshi und Dray zu sprechen. Sie erreichten die Tundrazone gestern am späteren Nachmittag. Wie sie vermutete gibt es dort nur Büsche und Krüppelbäume. Dafür wirken die Wasserläufe in dieser Gegend breiter. Aber vielleicht liegt das daran, dass sie nicht von Baumkronen verdeckt werden. Koshi unternahm einen Landausflug, um Proben für Mil zu sammeln. Sie ist gespannt, ob darunter endlich einige neue Arten sind. Anschließend bat er Dray, mit dem Rest des Tageslichts weiter in Richtung Pol vorzustoßen. Die Tundra scheint nahtlos in eine Zone mit Schnee und Eis überzugehen. In dieser Region übernachteten Dray und Koshi, bevor sie heute Morgen den Rückflug antraten. Mil ist froh, dass sie gegen Abend zurück sein wollen. Sie hat am Morgen den Waldrand kontrolliert: Er ist wieder ein Stück näher gerückt.

Nach der Statusmeldung versucht sie vergeblich, wieder in ihre unterbrochenen Gedankengänge einzusteigen. Frustriert speichert sie ihre Daten und wendet sich der Untersuchung der beutelartigen Wasserpflanze zu, die sie sich bisher noch nicht angesehen hat. Die Pflanze ist trotz der Aufbewahrung im Kühlfach inzwischen geplatzt und die Sporen liegen als graublaues Pulver im Behälter. Mil zieht den Schutzanzug an und beginnt mit ihren Untersuchungen im geschützten Bereich des Labors. Sie hat keine Lust, eine unbekannte Substanz einzuatmen. Vorsichtig nimmt sie Proben des Pulvers und der Pflanzenhaut, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen.

Sie zuckt zusammen, als ein Vibrieren durch das Schiff läuft. Andrej streckt den Kopf ins Labor.

«Wir machen jetzt einige Tests mit dem umgebauten Hilfstriebwerk. Lass dich nicht stören!»

Mil verzichtet auf eine Antwort, Andrej ist längst wieder verschwunden. Immerhin scheinen die beiden Männer voranzukommen. Mit gerunzelter Stirn wendet sie sich wieder der Probe zu. Koshis Stimme unterbricht sie allerdings fast sofort wieder.

«Mil, da gibt es eine Art Lichtung im Wald. Wir werden uns das mal näher ansehen.»

Eine Lichtung ist definitiv etwas Neues. Mil zieht sich die Handschuhe aus und streift die Kapuze des Schutzanzugs zurück, um sich im Kontrollraum die Übertragung anzusehen. Koshi hat recht, voraus ist im Wald eine Stelle zu erkennen, die keine oder nur sehr niedrige Vegetation aufzuweisen scheint. Gespannt verfolgt sie, wie Dray das Shuttle verlangsamt und zwischen den mächtigen Baumriesen zur Landung ansetzt. Die Lichtung ist nicht sehr groß, für das Schiff wäre sie auf jeden Fall zu klein. Die Bäume am Rand tauchen sie in tiefen Schatten. Dray hält das Shuttle in der Schwebe und lässt es einmal um die eigene Achse rotieren, damit sie über den Hauptsensor die ganze Lichtung betrachten können. Koshi gibt gerade den Befehl zu landen, als er von einem ohrenbetäubenden Kreischen unterbrochen wird. Während Mil sich die Hände auf die Ohren presst verfolgt sie, wie das Bild des Shuttlesensors abkippt. Der Boden kommt rasend schnell näher und dann wird der Schirm schwarz. Das Knirschen von zerreißendem Metal und ein Schmerzensschrei verhallen langsam, dann ist über den Lautsprecher nur noch ein flaches Atemgeräusch zu hören. Es dauert einen Moment, bis Mil sich vom ersten Schreck erholt hat.

«Koshi? Dray? Was ist passiert? ... Hört ihr mich? Dray? Koshi?»

Erst nach einer Weile vernimmt sie ein leises Stöhnen. Drays Stimme ist noch heiserer als sonst.

«Koshi? Woher ist dieser verfluchte Baum gekommen? Koshi, wo bist du? Mil? Hörst du mich?»

«Ich höre dich. Was ist passiert, Dray? Geht es dir gut? Was ist mit Koshi?»

«Da war plötzlich ein Baum. Ich schwöre, der war vorher nicht da. Koshi, wo steckst du? Wir haben hier nur Notlicht, Mil. Wir sind abgestürzt. Koshi? Nein!»

Mil hat ihre Kollegin noch nie so panisch gehört. Dann vernimmt sie ein leises Schluchzen.

«Dray? Sprich mit mir, Dray. Was ist passiert?»

«Scheiße, Mil... Ich glaube, Koshi ist tot.»

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