Wald
Das beinahe undurchdringliche Blätterdach taucht den Boden in tiefen Schatten. Nur einzelne Sonnenstrahlen verirren sich bis hier hinunter und tanzen wie flüchtige Schmetterlinge aus Licht zwischen den mächtigen Stämmen. Diese ragen wie majestätische blaugraue Säulen gegen den Himmel. Einige gehören zu der Art, die Mil bereits von der ersten Laborprobe her kennt. Andere haben eine regelmäßig feingerippte Rinde und ein Gewirr aus enormen Luftwurzeln. Wieder andere besitzen in Büschel angeordnete, blassrosa gefärbte kakteenartige Stacheln. Allen Sorten gemeinsam sind die porenartig über die Oberfläche verteilten Löcher. Es gibt zwischen diesen riesigen Stämmen nur wenige schlanke, deutlich kleinere Bäume mit streifig abblätternder grauer Rinde, die offensichtlich an ein Leben im Schatten der Baumriesen adaptiert sind. Ihre Blätter wirken im Gegensatz zu den satten Grüntönen ihrer größeren Verwandten fast weiß.
Mil kommt aus dem Staunen nicht heraus. Der Kontrast zu der verbrannten Ebene beim Raumschiff ist unglaublich. Es ist ihr erster Ausflug auf den Planeten. Immer wieder muss sie sich ermahnen, darauf zu achten, wo sie hintritt. Der Boden ist von alten Blättern bedeckt, die eine trügerische Sicherheit vorgaukeln. Darunter verbergen sich überall Sumpflöcher und Rinnsale. Mil ist froh über den Filter ihrer Atemmaske, denn laut ihren Anzeigen beträgt die Luftfeuchtigkeit hier fast 100 Prozent. Zusammen mit der hohen Temperatur und der absoluten Windstille muss das Atmen ohne Filter fast unerträglich sein. Sie sieht sich nach Dray und Andrej um, die in wenigen Metern Abstand rechts und links von ihr gehen. Die Pilotin fängt ihren Blick auf und grinst sie an.
«Und, wie gefällt dir Emerald?»
«Es ist wunderbar. Viel besser als auf dem Schirm. Sag mal, hast du schon so etwas wie Vögel oder Insekten bemerkt? Oder überhaupt Tiere?»
«Jetzt wo du fragst... Nein, eigentlich nicht. Das ist wohl ziemlich seltsam.»
Andrej bleibt stehen und mustert die Baumkronen. Dann bückt er sich, um einige Blätter zur Seite zu schieben. Konzentriert sucht er den Boden darunter ab.
«Du hast recht, keine Insekten. Was bedeutet das?»
Mil zuckt die Schultern. Es gibt kein Gesetz, dass es auf allen Planeten Insekten oder etwas äquivalentes geben muss. Trotzdem ist es erstaunlich, dass ihnen bisher keine Art von tierischem Leben aufgefallen ist. Sie sammelt einige der dürren Blätter auf und betrachtet sie genauer. Sie haben völlig unterschiedliche Formen. Während manche schmal, glatt und lanzettförmig sind, haben andere gezähnte Kanten oder sind mehrfingrig gegliedert. Einige sind winzig klein, andere fast groß genug, um sich damit zudecken zu können. Sie behält Beispiele der kleineren Exemplare und reißt Stücke aus den größeren. Dray begreift, was sie vorhat und hilft ihr beim Verpacken der Proben. Andrej platziert in der Zwischenzeit einen Beobachtungssensor auf einer dicken Luftwurzel. Das künstliche Auge übermittelt eine 360-Grad-Panoramaansicht direkt ans Schiff. Es ist zudem mit einem Infrarotsensor und einem Restlichtverstärker für die Nachtstunden ausgestattet. Das ist der dritte dieser Sensoren, den Andrej heute ausgebracht hat. Falls es hier irgend eine aktive Lebensform gibt, werden sie es bald wissen.
Langsam dringen sie tiefer in den Wald vor. Es gibt kein eigentliches Unterholz, Mil vermutet aus Mangel an Licht. Deshalb kommen sie gut voran, solange der Untergrund nicht zu sumpfig ist. Bald stoßen sie aber auf einen der Wasserläufe, die sie bereits beim Anflug vom Schiff aus beobachten konnten. Er ist breiter als jeder Fluss, den Mil in ihrem Leben gesehen hat. Äste der Bäume hängen weit übers Ufer hinaus. Auf der Oberfläche schwimmen Wasserpflanzen. Eine Sorte hat winzige Blätter und erinnert sie an Wasserlinsen. Daneben gibt es kräftige Blätter, die wie schwimmende grüne Halbkugeln aussehen. Eine dritte Art bildet grünlichweiße, blasenartige Schwimmkörper. Das Wasser selbst ist trübe und von schwarzblauer Farbe. Mil zuckt erschrocken zusammen, als Carlos über die Sprechfunkverbindung seinen Kommentar abgibt. Sie hat über all die neuen Eindrücke den Techniker vergessen, der jeden ihrer Schritte vom Schiff aus verfolgt.
«Sieht mehr aus wie Tinte als wie Wasser. Wovon kommt die blaue Farbe?»
Mil hat keine Ahnung. Aber Dray ist bereits dabei, vorsichtig einen kleinen Behälter mit der Flüssigkeit zu füllen, während Andrej einen weiteren Sensor platziert.
«Ich weiß nicht, Carlos. Vielleicht hat das etwas mit der Blaufärbung der Baumrinde zu tun. Der Fluss ist zu breit, um ihn zu überqueren. Ich denke, wir nehmen noch einige Proben von diesen Wasserpflanzen und kehren dann um.»
«Gute Idee. Koshi wird nämlich langsam ungeduldig.»
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Dendro
Science FictionDer Planet scheint wie geschaffen für eine menschliche Besiedlung. Genügend Wasser, eine erdähnliche Atmosphäre und eine üppige Vegetation. Mil macht sich mit Begeisterung an die Erforschung der Biosphäre. Dabei entgeht ihr ein Detail...