Dendro - Mil

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Mil

Mil schaltet den Leseschirm aus. Carlos hatte recht, es hat sich gelohnt, diese Geschichte zu Ende zu lesen. Und wie das Leben haben manche Geschichten kein rundum glückliches Ende. Sie reibt sich müde die Augen. Seit dem Absturz des Shuttles hat sie nicht mehr richtig geschlafen. Immer wieder sieht sie im Traum die Gesichter der verlorenen Kollegen, hört Drays heisere Stimme und Andrejs ansteckendes Lachen. Wenn sie dann erwacht, fühlt sie sich zerschlagen und deprimiert. Das Buch hat sie etwas abgelenkt. Sie holt ihren Bericht auf den Schirm, um ihn vor dem Absenden ein letztes Mal zu überfliegen. Wenn er bei Spacecorp ankommt, wird sie wohl schon lange tot sein. Ein seltsames Vermächtnis, das sie da zurücklässt. Carlos betritt das Labor, in dem sich Mil seit einiger Zeit verkrochen hat, mit einem Tablett mit Essen. Es riecht ausgezeichnet.
«Ich habe die Vorräte geplündert. Ich hoffe, du hast nichts gegen südamerikanische Küche?»
«Wenn das so gut schmeckt wie es riecht, bin ich absoluter Fan bevor ich davon probiert habe!»
Mit einem Schmunzeln schöpft der Techniker zwei großzügige Portionen eines scharfen Eintopfs auf Teller. Mil fühlt sich plötzlich ausgehungert. Rasch taucht sie den Löffel in ihr Essen. Carlos hat sogar frisches Brot gebacken und eine der wenigen, kostbaren Weinflaschen aus Koshis Privatvorrat geöffnet. Er lächelt sie an und prostet ihr mit seinem Glas zu.
«Auf Emerald und die Zukunft! Bist du fertig geworden?»
«Ja, sowohl mit dem Buch wie auch mit dem Bericht. Den muss ich nur noch abschicken. Ich möchte zu gern wissen, was sie bei Spacecorp davon halten werden.»
«Spacecorp? Die lassen ihn verschwinden und schicken eine Expedition los, um diesen Wald zu Möbeln zu verarbeiten. Mit echtem Holz ist auf der Erde ein gutes Geschäft zu machen. Warum schickst du den Bericht nicht jemandem, dem du vertraust? Zum Beispiel an der Akademie?»
Mil nimmt nachdenklich einen Schluck von ihrem Wein. Er schmeckt gut, sie hat schon lange nichts Vergleichbares mehr gekostet. Carlos könnte in diesem Punkt recht haben.
«Ich weiß nicht, Spacecorp ist unser Auftraggeber. Haben sie nicht ein Anrecht auf den Bericht?»
«Vielleicht, wenn du es ethisch genau nimmst. Andererseits kennst du deren Geschäftsmethoden so gut wie ich. Bei Spacecorp wird niemand unseren Verlust betrauern. Und dieser Bericht ist das letzte, was die Menschheit von uns zu hören bekommt. Ich möchte, dass er in die richtigen Hände gerät. Kann sein, dass dieser Wald uns umbringt, aber er war zuerst hier, Emerald ist sein Planet.»
Carlos schafft es immer wieder, Mil zu überraschen. Der Techniker mag keine überragende Ausbildung haben, aber er ist sich über Recht und Unrecht nie im Zweifel. Dies ist nicht die erste Diskussion dieser Art, seit sie beide sich damit abgefunden haben, dass ihr Schiff nie wieder starten wird. Sie überlegt, wohin sie den Bericht sonst schicken könnte. Koshi wäre sicher dagegen, würde das als Pflichtverletzung betrachten. Sie kann sich gut sein ernstes Stirnrunzeln und die ablehnende Geste vorstellen. Er war ein guter Kommandant. Plötzlich fällt ihr eine junge Professorin ein, die auf einer Tagung von Xenobiologen über Ethik im Raumprogramm referierte. Mils Bedenken werden von Entschlossenheit abgelöst. Sie stellt den Teller beiseite, um den Adressaten des Berichts zu ändern. Dann tippt sie rasch einen erklärenden Begleitbrief ein. Plötzlich läuft ein Zittern durch das Schiff. Mil blickt erschrocken auf. Carlos kann gerade noch verhindern, dass ihr Teller von Tisch rutscht. Ernst mustert er die Anzeige eines Kontrollschirms.
«Es fängt an. Einer der Bäume hat eine Wurzel über die hintere Seitenstütze gelegt. Das Material ist stark, aber ich fürchte, diesem Druck wird es nicht lange standhalten.»
Er schiebt Mil den Teller zu und schenkt ihr den Rest des Weins ein. Sie nimmt zögernd das Glas.
«Was denkst du, wie lange haben wir noch?»
Sie ärgert sich über das Zittern in ihrer Stimme. Sie möchte dem Schicksal so ruhig begegnen wie Dray und Andrej. Carlos lächelt ihr über den Rand seines Glases hinweg tröstend zu.
«Einige Stunden oder vielleicht auch Tage. Wer weiß, wie stabil Spacecorp die Hülle gebaut hat. Ich finde, das wäre ein geeigneter Moment für einen Abendspaziergang, was denkst du? Die Sonne geht gleich unter und in diesem goldorangen Licht ist der Wald am schönsten!»
Mils Kehle fühlt sich plötzlich trocken an. Sie trinkt den Rest ihres Weins aus, bevor sie kurz entschlossen die Empfängeradresse ihres Berichts mit dem Prädikat ‹Vertraulich› ergänzt und die Sendetaste drückt. Sie lächelt Carlos zu. Sie fühlt sich endlich entspannt, bereit für ein Abenteuer.
«Also gut, ich bin soweit. Lass uns gehen!»
Carlos nimmt ihre Hand und gemeinsam verlassen sie das Schiff, um in den geheimnisvollen Wald hinauszugehen. Sie nehmen sich nicht die Mühe, die Schleuse wieder zu versiegeln.

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