Dendro - Andrej

561 69 26
                                    

Andrej

Mil verbringt die Nacht im Kontrollraum und versucht, an der Interpretation ihrer Daten zu arbeiten. Dray schlief kurz nach ihrer seltsamen Aussage über farbige Lichter ein, den Kopf gegen einen Baumstamm oder eine Wurzel gelehnt. Die Übertragung der Maskenkamera zeigt nun seit Stunden ein kleines Stück Sternenhimmel zwischen mächtigen Baumkronen, begleitet von Drays friedlichen Atemzügen. Solange sie ruhig schläft, will Mil sie nicht wecken. Carlos arbeitet an der Maschine. Andrej schaut kurz vorbei und lauscht einen Moment lang mit einem stillen Lächeln Drays Atem, bevor er auch in den Maschinenraum zurückkehrt. Inzwischen ist Mil todmüde und kann sich kaum mehr auf ihr Projekt konzentrieren, obwohl sie kurz vor einem Durchbruch steht. Immer wieder nickt sie ein, um gleich wieder hochzuschrecken und auf Drays nächsten Atemzug zu warten. Schließlich gleitet sie übergangslos in tiefen Schlaf.

Mil erwacht abrupt und fährt hoch. Einen Moment lang ist sie völlig orientierungslos und fragt sich, warum sie nicht in ihrer Koje liegt. Dann fällt ihr Blick auf den Hauptschirm, der nun schwach erkennbar ein Stück Waldboden zeigt. Plötzlich fällt ihr die absolute Stille auf.

«Dray? Was ist bei dir los? Dray? Antworte mir! ... Wach auf, Dray!»

Der Lautsprecher bleibt stumm, trotz Mils zahlreichen Versuchen, die Pilotin zu erreichen. In ihrem Magen breitet sich Kälte aus. Sie schaltet eine Verbindung in den Maschinenraum.

«Carlos? Andrej? ... Ich glaube, ich habe Dray verloren.»

Die beiden kommen sofort. Andrej spielt die Aufzeichnung der Maskenkamera ab. Sie zeigt lange nur einige Sterne und die Silhouette von Baumkronen, begleitet von Drays entspanntem Atem. Dann ist ein unverständliches Murmeln zu hören und die Atemzüge der Pilotin werden noch ruhiger. Kurz darauf verändert sich ruckartig das Bild, kippt nach unten, bis nur noch ein Stück Boden sichtbar ist. Gleichzeitig hört die Übertragung von Drays Atmung auf. Mil vermutet, dass diese Veränderung sie aus dem Schlaf gerissen hat. Sie fühlt sich schuldig am Kontaktverlust.

«Sie hat aufgehört, zu atmen. Ich hätte nicht einschlafen dürfen.»

«Nein, ich glaube, sie hat die Maske ausgezogen und auf den Boden gelegt. Seht her!»

Carlos lässt die Sequenz mehrmals durchlaufen. Er könnte recht haben. Andrej versucht, die Worte zu verstärken, die Dray im Schlaf murmelt. Es gelingt ihm nur bruchstückhaft.

«So schön ... froh ... sehen .... bald ist ... drej!»

Mil und Carlos blicken Andrej an, denn zuletzt nennt sie wohl dessen Namen. Es klingt nicht so, als hätte sie  Angst oder fühle sich bedroht. Ohne Möglichkeit Dray zu erreichen warten sie vergeblich darauf, dass diese von sich aus Kontakt aufnimmt. Gegen Morgen schlägt Mil vor, dass sich alle etwas schlafen legen. Carlos kann kaum mehr die Augen offen halten und Andrej sieht zehn Jahre gealtert aus. Den Kanal von Drays Maske legen sie auf die Lautsprecher in allen Räumen.

Der nächste Tag verläuft gespenstisch still. Nach einigen Stunden ruhelosem Schlaf beginnt Mil wieder mit ihrer Datenauswertung. Ständig überprüft sie, ob Drays Kommunikationskanal noch offen ist. Sie hat den Schock über Koshis Tod und den Verlust von Dray noch nicht überwunden und will nicht wahrhaben, dass die Pilotin wohl nie wieder antworten wird. Carlos ist im Maschinenraum und Andrej hat sie den ganzen Tag noch nicht gesehen.

Erst am Abend kehrt sie mit einem Becher starken Kaffee in den Kontrollraum zurück. Der Astrophysiker sitzt im Sessel des Kommandanten und starrt den Schirm an, der immer noch die Übertragung von Drays Maske zeigt. Die Batteriereserve der Kamera geht langsam zur Neige und damit die letzte Kontaktmöglichkeit mit Dray. Andrej nimmt den Kaffee mit einem abwesenden Nicken an. Mil kontrolliert das Näherrücken des Waldrandes. Wenn es so weitergeht, erreicht er in zwei Tagen das Schiff. Langsam wird ihr Andrejs Schweigen unheimlich. Ihre Stimme ist sehr leise.

«Andrej? Wie geht es dir?»

Der Astrophysiker lehnt sich mit einem Seufzen zurück. Er wirkt müde und deprimiert.

«Es geht schon, Mil. Seit ich mich bei Spacecorp beworben habe weiß ich, dass mir das eines Tages passieren kann. Jetzt, wo es passiert ist, beschäftigt es mich trotzdem. Seltsam, dass es uns gerade hier erwischt. Der Planet sieht so paradiesisch aus. So kann der Schein trügen.»

Dann steht er entschlossen auf und blickt Mil mit seinen blauen Augen direkt an.

«Hör zu, Mil. Ich gehe jetzt da hinaus. Was immer Dray gesehen hat, es hat ihr gefallen. Ich gehe lieber mit offenen Augen auf mein Schicksal zu, als in dieser Falle hier darauf zu warten.»

Mil blickt ihm betroffen nach, als er den Raum verlässt. Sie weiß nicht, wie sie ihn aufhalten kann.

DendroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt