Dendro - Sonnenaufgang

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Sonnenaufgang

Einmal mehr ist es Mils Aufgabe, die Kommunikation mit dem Shuttle zu überwachen, während Andrej und Carlos weiter am Antrieb arbeiten. Carlos ist verhalten zuversichtlich, dass sie eine Möglichkeit finden werden, die Haupttriebwerke wieder zu starten. Allerdings befürchtet er, dass das umfunktionierte Hilfstriebwerk bereits nach wenigen Versuchen überlastet ausbrennen wird. Deshalb will er sicher sein, dass alles auf Anhieb und beim ersten Versuch klappt.

Es ist noch dunkel, als Koshi und Dray sich für den nächsten Erkundungsflug bereit machen. Der Kommandant will heute unbedingt bis zur Tundra vordringen. Andrej hat die Bilder vom Anflug analysiert und eine Flugzeitberechnung erstellt. Dray muss die Kapazität des Shuttles bis zum Limit ausreizen, wenn sie den Weg hin und zurück in einem Tag hinter sich bringen wollen. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass sie da draußen in Emeralds Wildnis übernachten. Aber diese Option erwähnt niemand. Mil ist sich dennoch sicher, dass zumindest Koshi sie in Betracht zieht. Seine Verabschiedung ist kurz und sachlich wie immer.

«Mil, wir bleiben in ständigem Kontakt. Wir werden zu jeder vollen Stunde eine Statusmeldung durchgeben. Ich erwarte von euch das gleiche. Bereit, Dray? Dann los.»

Dray folgt ihm zur Schleuse. Dort dreht sie sich aber spontan noch einmal um und lässt es sich nicht nehmen, sich mit einer Umarmung von den zurückbleibenden Mitgliedern der Crew zu verabschieden. Sie geht sogar soweit, Mil ein heiseres «Danke» ins Ohr zu flüstern. Der kurze aber intensive Blickkontakt zwischen Andrej und der Pilotin erklärt für Mil alles. Carlos scheint davon nichts zu bemerken. Ihm genügt es, von der attraktiven, normalerweise distanzierten Dray mit einer Umarmung bedacht zu werden. Er strahlt immer noch übers ganze Gesicht, während Koshi bereits die Einstiegsschleuse versiegelt und Dray das Shuttletriebwerk startet.

Andrej wirft Mil einen wissenden Blick zu, bevor er mit dem Techniker im Maschinenraum verschwindet. Sie setzt sich in den Kontrollraum, um auf den Tagesanbruch zu warten. Mil will erst nach dem Start und der ersten Statusmeldung ins Labor hinübergehen, um an ihren Projekten weiterzuarbeiten. Langsam lässt sie den Blick über die Schirme schweifen. Der Hauptmonitor zeigt die Bilder der Shuttlesensoren. Dray hat die Außenbeleuchtung eingeschaltet, so dass Mil den Start verfolgen kann. Einmal mehr bewundert sie, mit welchem Geschick die Pilotin manövriert. Sanft zieht sie das Shuttle vom Hangardeck hoch und durch die knapp bemessene Schleuse der Außenhaut, als ob nichts dabei wäre. Als sie den im Nebel versunkenen Waldrand erreicht, schaltet Dray das Licht aus. Nur ganz schwach sind bereits die ersten Baumkronen zu erkennen, über die das Shuttle nun mit Höchstgeschwindigkeit dahinzieht.

Drei der kleineren Kontrollschirme sind immer noch mit Andrejs im Wald installierten künstlichen Augen gekoppelt und übermitteln Tag und Nacht deren Bilder. Koshi hat ein Programm initiiert, das einen Alarm auslöst, wenn sich da draußen etwas bewegt. Er hofft immer noch, damit eine höhere Lebensform zu entdecken. Bisher wurde der Alarm elfmal aktiviert, immer von fallenden Zweigen und Blättern. Dort draußen unter dem Blätterdach ist es noch völlig dunkel, die Restlichtverstärker zeigen nur Konturen von Baumstämmen und schwache Reflexionen von Wasserflächen.

Die Aufzeichnung des Außensensors des Schiffs, der gegen Osten gewandt ist, wird nun aber langsam heller. Mil überträgt dieses Bild auf den Hauptschirm. Sie liebt den Sonnenaufgang auf Emerald und freut sich auf eine weitere Gelegenheit, das grandiose Schauspiel zu betrachten. Langsam nimmt der Himmel eine tiefrosa Färbung an. Dichte weiße Nebel verhüllen wie jeden Morgen den Wald. Sie lösen sich erst vollständig auf, wenn die Sonne bereits hoch am Himmel steht. Jetzt verfärben sie sich langsam blassrosa und werden dann allmählich blutrot wie der Himmel, als sich die gigantische Kugel der Sonne über den Horizont erhebt. Mil hat sich noch nicht daran gewöhnt, dass das Zentralgestirns dieses Planeten gut doppelt so groß ist wie die Sonne, die sie kennt. Außerdem führen die Unterschiede in der Atmosphäre dazu, dass das Licht eine andere Qualität besitzt. Das wird nie so deutlich wie gerade bei Sonnenauf- und -untergang. Die Nebel verfärben sich orangegolden und beginnen sich zu lichten.

Plötzlich reibt Mil sich überrascht die Augen. Etwas an dem Bild da draußen stimmt nicht. Rasch ruft sie die Aufzeichnungen der letzten drei Tage ab und blendet die Aufnahmen übereinander. Andrej hat ihr gezeigt, wie das geht. Zuerst denkt sie, sie habe einen Fehler gemacht. Aber auch ein neues Hochladen der Bilder ändert nichts. Offensichtlich waren sie in den letzten Tagen alle zu beschäftigt, um es zu merken. Aber es besteht kein Zweifel, der Waldrand rückt dem Schiff näher, jeden Tag ein kleines, beinahe unmerkliches Stück. Mils Magen krampft sich kalt zusammen.

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