Klimaarchiv
«Schau dir diesen an! Es ist, als hätte er sich im Lauf des Wachstums gedreht, sogar mehrmals.»
Andrej beugt sich neugierig über die Probe, eine vollständige Scheibe eines jüngeren Stamms.
«Wie kommst du darauf, Mil?»
«Hier, zuinnerst, sind die Jahrringe auf dieser Seite schmal und gegenüber deutlich breiter. Offensichtlich hat er das Licht in dieser Zeit vorwiegend von dieser Seite hier erhalten. Etwas später ist es dann genau umgekehrt, die Sonnen- und die Schattenseite sind wie ausgewechselt. Und dann an dieser Stelle, da ist es, als ob der Baum plötzlich völlig frei gestanden wäre und optimale Licht- und Nährstoffverhältnisse gehabt hätte, während er vorher scheinbar Teil eines mehr oder weniger geschlossenen Waldes war.»
Andrej betrachtet nachdenklich die Holzscheibe. Sie haben in den letzten beiden Tagen Dutzende von Proben umgestürzter Bäume gesammelt und sind mit den Forschungen ein gutes Stück weiter. Allerdings hat sich Mils anfängliche Vermutung bestätigt, dass nicht alle Baumarten gleich gut für ihre Analysen geeignet sind. Carlos hat deshalb einen Bohrer entwickelt, mit dem er auch von den noch wachsenden Bäumen Kernproben entnehmen kann. Während Mil und Andrej im Labor arbeiten, ist er nun mit Koshi unterwegs, um Bohrkerne zu entnehmen. Die Beobachtung an dieser letzten Probe lässt sich aber nur an ganzen Scheiben verifizieren. Vielleicht werden sie also doch einige Bäume fällen müssen. Mil ist zwar strikt dagegen. Aber Koshi ist sehr an ihren Forschungen interessiert. Er will sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Emerald und seine Klimageschichte besser zu verstehen. Deshalb lässt er Dray das Shuttle für einen Erkundungsflug vorbereiten. Eigentlich wollte er zuerst mit dem Schiff eine neue Stelle aufsuchen, aber Mil konnte ihm deutlich machen, dass sie zuerst eine breite lokale Datenbasis aufbauen muss, bevor sie Proben aus anderen Klimazonen im Vergleich interpretieren kann.
Mil kann inzwischen nachweisen, dass in dieser Gegend das Klima seit vielen Jahrhunderten sehr konstant war. Es scheint einen regelmäßigen Zyklus mit jeweils zwei oder drei besonders kalten Sommern zu geben, der alle 579 Emerald-Jahre auftritt, was 652 Erdenjahren entspricht. Danach bessern sich die Verhältnisse schlagartig wieder. Das Sommerholz der meisten untersuchten Bäume ist während dieses Ereignisses jeweils fast nicht vom Winterholz zu unterscheiden. Nun haben sie auf der Suche nach der Ursache für dieses Phänomen fast alle Proben durchgearbeitet.
«Mil, kann es sein, dass wir es mit einem astronomischen Zyklus zu tun haben? Du hast Sonnenflecken erwähnt. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das etwas mit einem Kometendurchgang oder einem anderen Himmelskörper zu tun hat, der die Umlaufbahn beeinflusst, oder vielleicht sogar mit dem Zusammenspiel der beiden Monde.»
«Schon möglich, dass das in dein Fachgebiet fällt. Für einen Vulkan ist es auf jeden Fall zu regelmäßig. Ich habe mich soeben gefragt, ob jeweils nur ganz wenige Arten diesen drastischen Klimawechsel überhaupt überleben. Das würde erklären, warum dieser Wald so artenarm ist. Wir haben inzwischen 53 verschieden Spezies registriert, die Wasserpflanzen eingeschlossen. Das ist weniger, als wir zuhause auf zehn Quadratmetern Wiese erwarten würden!»
«Auf der Erde hätten wir in einem solchen Wald auch jede Menge Insekten beobachtet.»
Mil nickt. Nicht nur die Insekten fehlen, es gibt hier gar nichts, was sie als Tiere klassifizieren würde, nicht einmal Schnecken, Würmer oder etwas Krabbelndes unter dem Mikroskop. Auch die Artenvielfalt bei den Pflanzen ist gering. Sie hat 23 Baumsorten aufgenommen, 6 lianenartige Schlingpflanzen, 5 Pilzsorten, 7 Wasserpflanzen und 12 Moose oder Flechten. Irgendetwas stimmt mit der Vegetation auf diesem Planeten nicht. Seufzend wendet sie sich wieder ihrem Monitor zu.
«Vielleicht solltest du die Kometentheorie überprüfen, Andrej. Irgendetwas ist hier faul. Auf der Erde rechnen wir mit mehreren Millionen Arten. Es ist nicht möglich, dass in einem Paradies wie Emerald nur so wenige vorkommen. Ich bin wirklich gespannt, ob das überall so ist.»
Beladen mit einem großen Beutel Bohrkerne betritt Carlos das Labor, dicht gefolgt von Koshi. Müde legt der Kommandant seine Proben ab und lässt sich in einen Sessel fallen.
«Ich hoffe, dass ihr damit etwas anfangen könnt. Das Bohren ist eine ziemliche Plackerei. Und Scheiben wird es so bald keine mehr geben. Habt ihr euch heute schon mal den Waldrand genauer angesehen?»
Mil und Andrej wenden sich dem Seitenschirm zu, der das Außenbild zeigt. Andrej flucht leise auf russisch während Mil erschrocken die Luft einzieht. Die umgeknickten Stämme, die in den letzten Tagen ganz allmählich etwas tiefer sackten, sind spurlos verschwunden.
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Dendro
Science FictionDer Planet scheint wie geschaffen für eine menschliche Besiedlung. Genügend Wasser, eine erdähnliche Atmosphäre und eine üppige Vegetation. Mil macht sich mit Begeisterung an die Erforschung der Biosphäre. Dabei entgeht ihr ein Detail...