Erkenntnisse
Koshi gelingt es, mit einem mechanischen Greifer einen der Sporenbeutel noch vor dem Platzen aufzusammeln und unversehrt ins Schiff zu holen. Dray muss dazu das Shuttle bis wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche sinken lassen, in Mils Augen eine Meisterleistung. Dann drängt der Kommandant aber darauf, den Flug fortzusetzen. Er will noch heute bis zu der Region vordringen, wo das Klima für die großen Bäume zu kalt wird. Mil glaubt, dass es eine Art Tundra mit kälteresistenten Pflanzen geben muss. Wenn sie recht hat, wäre dies vielleicht der ideale Ort für eine menschliche Besiedlung. Während das Shuttle deshalb mit höchster Geschwindigkeit weiterfliegt, vertieft sie sich wieder in ihre Forschungen.
Inzwischen weiß sie, dass die Bäume hier sich in einigen Punkten doch wesentlich von ihren irdischen Verwandten unterscheiden. Zum Beispiel gibt es diese auffälligen, bis zu mehrere Zentimeter dicken Löcher, die von der Oberfläche her bis ins Zentrum des Stammes hineinreichen. Sie kommen bei allen Baumarten vor und unterscheiden sich nur in der Form des Lochquerschnitts, der von rund über oval zu dreieckig und sternförmig reicht. Anfangs konzentrierte sie ihre Untersuchungen auf die äußersten, jüngsten Schichten des Holzes. In Analogie zu den Bäumen auf der Erde nahm sie an, dass sich dort alles Wichtige abspielt. Jetzt stellt sie fest, dass die Löcher sich gegen innen immer weiter verjüngen und zuletzt kaum noch zu erkennen sind. Mil holt einige der großen Baumscheiben hervor. Die Löcher reichen in jedem Fall bis ins innerste Mark. Und dieses unterscheidet sich deutlich von den äußeren Jahrringen. Hier, im Kern des Baumes, verlaufen weite Gefäße, die deutlich besser ausgebildet sind als die äußeren Tracheen. Die strahlenförmig angeordneten Löcher verbinden die Markgefäße mit der Außenhaut oder Rinde des Baums. Mit einem Flüssigkeitstest gelingt es Mil, diese Verbindung einwandfrei nachzuweisen. Nun rätselt sie über die Bedeutung ihrer Entdeckung. Innen sind die Markgefäße mit einem netzartigen Gewebe aus kleinen aber komplexen Zellen ausgekleidet, deren Funktion sie sich nicht erklären kann. Sie hat noch nie etwas Vergleichbares gesehen und findet auch im Bibliotheksbereich des Hauptcomputers keinen brauchbaren Hinweis.
Mil steht auf, um sich einen Moment die Beine zu vertreten. Sie sieht bei Carlos vorbei, der im Maschinenraum den Mellowspeicher auseinandergenommen hat. Sein Arbeitstisch ist mit Werkzeugen, Messgeräten und Einzelkomponenten übersät. Er wirft Mil mit gerunzelter Stirn einen kurzen Blick zu und schüttelt den Kopf. Sie holt ihm einen Becher Kaffee und lässt ihn dann arbeiten. Sie weiß genau, wieviel nun vom Geschick des Technikers abhängt.
Andrej hat sich im Kontrollraum eingerichtet. Er arbeitet an seiner eigenen Theorie zu den zyklischen Klimaereignissen, die Emerald alle 579 Jahre heimsuchen. Als Mil den Raum betritt, blickt er mit einem zufriedenen Lächeln von seinem Schirm auf.
«Gut dass du kommst. Ich habe da etwas für dich. Setz dich.»
Gespannt verfolgt Mil die Simulation, die der Astrophysiker abspielt. Er hat ein dreidimensionales Modell des Systems von Emerald programmiert, komplett mit beiden Monden und vier äußeren Planeten, die er entdeckt hat. Außerdem gibt es da einen breiten Asteroidengürtel und mehrere Kleinplaneten. Andrej lenkt ihre Aufmerksamkeit auf einen fünften, dunklen Planeten, der weit außerhalb der anderen seine Bahn um das Zentralgestirns zieht.
«Siehst du diesen riesigen Planeten? Im Moment befindet er sich ganz außen auf seiner ungewöhnlich elliptischen Umlaufbahn. Moment, ich zeige es dir.»
Andrej lässt sein Modell schneller laufen und Mil beginnt zu verstehen. Der dunkle Planet nähert sich nun rasch dem Zentralgestirn, um dieses schließlich deutlich innerhalb von Emerald mit hoher Geschwindigkeit zu runden. Danach verlässt er die Nähe der inneren Planeten wieder.
«In rund 250 Jahren passiert der dunkle Riese in Sonnennähe. Er kommt dem Stern dabei so nahe, dass es vermutlich zu großen Störungen seiner äußeren Gasschichten kommt. Das bedeutet erhöhte Strahlungswerte und extrem hohe Sonnenfleckenaktivität.»
Mil studiert fasziniert die Simulation.Veränderte Sonnenaktivität hat klimatische Auswirkungen, kann gewaltige Stürme und Gewitter auslösen. Erhöhte Strahlung dagegen führt zu einer Erwärmung, damit bestimmt zu Trockenheit, vielleicht sogar zum Absterben der Blätter. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für flächige Waldbrände von katastrophalem Ausmaß. Allein die Asche in der Atmosphäre dürfte jahrelang das Sonnenlicht verdunkeln und das Wachstum der Bäume behindern. Andrej schaltet die Simulation aus.
«Da hast du den Grund für deine kleine Eiszeit. Dieser Zyklus wiederholt sich alle 579 Jahre.»
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Dendro
Science FictionDer Planet scheint wie geschaffen für eine menschliche Besiedlung. Genügend Wasser, eine erdähnliche Atmosphäre und eine üppige Vegetation. Mil macht sich mit Begeisterung an die Erforschung der Biosphäre. Dabei entgeht ihr ein Detail...