Kapitel 28

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Zwei, drei Sekunden verstreichen, in denen wir alle stocksteif stehen bleiben und uns mit großen Augen angucken.

Doch dann stürmen wir alle in Richtung Michelles Tür. Wie Stürmer auf dem Spielfeld preschen wir los und versuchen als erstes am Ball zu sein.

Ich, als junger und einigermaßen in guter Form seiender, bin der erste, der das Ziel erreicht und den Gegner aus dem Weg schubst.

Überrascht stolpert Stefan ein Stück zur Seite und beobachtet, wie ich an die Tür klopfe. Unter dem warnenden Zittern der Tür sehe ich, dass ich etwas zu stark klopfe. Aber Michelles andauerndes Geschrei kann ich nicht übertönen. Selbst die besorgten stimmen ihre Eltern gehen darin unter.

Kurzerhand schiebt mich Martin weg, um nun selbst auf die Tür zuschlagen. Doch mehr als ein erneutes Zittern erreicht er nicht. Auch Michelle brüllt weiter und scheint sich nicht beruhigen zu können.

"Michelle!", brüllen Martin und Erika abwechselnd, aber immer noch reagiert sie nicht. Sie will einfach nicht aufhören zu schreien. Immer wieder versuchen sie beruhigend auf Michelle einzureden. Doch sie nimmt ihre Eltern gar nicht wahr, weint und schreit noch lauter.

"Michelle!", schreie ich nun so laut ich kann, um ihren unnatürlich lauten Schrei zu übertönen. Plötzlich verstummt ihr Schrei und sie wimmert leise vor sich hin. Wie auf Knopfdruck Seufzen wir alle. Noch nie war ich so glücklich über Stille.

"Michi, mein kleiner Engel, mach die Tür auf.", sanft redet Erika auf sie ein. Stefan steht geschockt vor der Wand und nimmt erst jetzt seine Hände von den Ohren weg. Auch ich lehne mich an die Wand und reibe mir das Gesicht. Ich fühle mich als hätte ich die ganze Nacht nicht geschlafen.

Eine schwere Hand legt sich auf meine Schulter und ich schaue in das genauso müde Gesicht von Martin.

"Ich rufe einen Schlüsseldienst, damit wir endlich diese verdammte Tür wegbekommen." Ich nicke nur als Antwort, weil ich Martin noch nie fluchen gehört habe und weil ich total fertig bin.

Ich schließe die Augen. Trotzdem kann ich mich dieser Situation nicht entfliehen. Ich kann immer noch Martins eindringliche und Erikas sanfte Stimme hören.

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"Meine Tochter hat das auch einmal gemacht, weil sie so sauer auf mich war. Aber leider hatte sie vergessen, wie gut ihr Vater Schlösser knacken kann."

Während der Arbeiter vor dem Schloss hantiert und redet wie ein Wasserfall, zappeln wir alle unruhig herum. Wieso redet er so viel? Er soll das Schloss schneller öffnen! In aller Ruhe steht er vor der Tür und pfeift fröhlich vor sich her. Das Wimmern von Michelle ist schon längst verstummt.

Doch das beunruhigt uns alle viel mehr als das die Stille tröstet. Ihr könnte sonst was zugestoßen sein. Niemand war mehr bei ihr. Außer Stefan. Aber er beteuert, dass es ihr noch gut ging am Morgen und dass er sie nicht gesehen habe.

Ein Klicken erweckt meine Aufmerksamkeit. Ich schaue auf die einen spaltbreit geöffnete Tür. Bevor der Arbeiter noch etwas sagen kann, stürme ich an ihm vorbei ins Innere von Michelles Höhle.

Im wahrsten Sinne des Wortes.

Es ist stockend duster und die Luft riecht total abgestanden, als hätte sie seit Wochen hier drin gelebt, ohne das Licht und frische Luft rein zu lassen. Instinktiv halte ich mir die Hand vor die Nase, weil der Gestank im Raum kaum zu ertragen ist.

Doch dann entdecke ich Michelle. Eingerollt in ihrer Decke. Den Blick auf die Wand geheftet. Erst als ich näher an sie heran trete, bemerke ich, dass sie am ganzen Körper zittert und immernoch wimmerlaute aus ihrem Mund dringen. Schnell wird klar, dass von ihr der übelriechende Gestank aus geht. Sie schwitzt als hätte sie Fieber, hält ihre Decke mit blanken Fingern fest wie um sich zu wärmen.

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