Es ist bereits dunkel, als ich den ausgemachten Treffenpunkt erreiche. Hier ist es still. Zu still. Ein ungutes Gefühl kommt in mir auf. Niemand ist da. Sie sind weg. Ich komme zu spät. Hoffnungsvoll laufe ich ein Stück nach rechts und links. Doch niemand zeigt sich. Ich muss zurück zu William. Vielleicht kann ich ihm noch helfen. Leise und im Schutz der Dunkelheit gehe ich den Weg zurück. Doch da ist nichts mehr. Nichts außer einer kleinen Blutlache. Was soll ich jetzt tun? Ich bin alleine, kenne mich hier nicht aus. Zitternd setze ich mich hinter einen Stein. Es wird immer kälter, wenn ich nicht erfrieren möchte, dann sollte ich weiter. Nur wohin? Amerika liegt im Westen. Da wir im Landesinneren sind müsste ich Richtung Osten um an die Küste zu gelangen. Wenn ich dort bin laufe ich einfach nach Süden, dort wird irgendwann ein Hafen kommen. Die Sonne ist hinter der Kolonie untergegangen, also muss ich mich durch das Gebirge schlagen. Müde rappel ich mich auf und gehe los. Mein dünnes Kleid wärmt nicht wirklich, doch ich besitze nichts anderes mehr.
Die Sonne geht schon wieder auf, aber ich traue mich nicht eine Pause zu machen. Tante Anne meinte einmal, wenn man wandert und dann eine Pause macht, dann werden die Knochen noch müder und man läuft nicht mehr weiter. Dies darf auf keinen Fall passieren. Vielleicht will der Kapitän mich suchen, da brauche ich so viel Abstand wie möglich von der Kolonie. Mit der Sonne verschwindet die Kälte sehr schnell. Am Anfang ist es noch angenehm doch bald wandelt sich die Wärme in drückende Hitze. Schon seit längerer Zeit fühle ich mich verfolgt, doch wären die Männer des Kapitäns nicht längst aufgefallen? So lange würden sie niemals warten. Es ist mit Sicherheit Einbildung auf Grund der vergangenen Erlebnisse. Vorsichtig nehme ich einen kleinen Schluck aus meiner Flasche um meine rissigen Lippen anzufeuchten. Immer darauf bedacht so sparsam wie möglich zu sein und nichts zu verschwenden. Als die Sonne immer höher steigt beschließe ich doch mal eine Pause zu machen und die Mittagshitze abzuwarten. Ich setze mich in den Schatten eines Felsen und schließe die Augen.
Als ich wieder aufwache ist die Sonne ein gutes Stück tiefer gesunken. Ich reibe mir einmal über die Augen und nehme einen Schluck Wasser, um nicht zu überhitzen. Obwohl ich nicht mehr kann, mein Kopf und meine Füße wehtuen, stehe ich auf und laufe weiter. Ich will zurück nach Brighton. Zurück zum Hof, zu Tante Anne, zu meinem Zuhause.
Erneut bricht die Dämmerung ein und das Gefühl verfolgt zu werden wird stärker. Doch ich kann beim besten Willen nichts erkennen. Wieder einmal schweifen meine Gedanken zum Hof von Tante Anne. Und zu William? Ob er noch lebt? Bestimmt. Und bestimmt hat er es auch geschafft und ist wie ich auf den Weg zur Küste, um einen Hafen zu finden. Laute Schritte reißen mich abrupt aus meinen Gedanken. Ängstlich bleibe ich stehen. Mich hat also doch jemand verfolgt. Vorsichtig taste ich nach meinem Messer. Doch es ist nicht an der Stelle wo es war. Panisch drehe ich mich im Kreis, als wieder Schritte zu hören sind. Von allen Seiten. Ich bin umzingelt. Ein lauter Ruf erklingt. Am liebsten würde ich die Augen zu machen, mich ganz weit weg wünschen. Ebenso bin ich ganz gebannt was passiert und kann mich im Schock kein Stück bewegen. Männer kommen hinter den Felsen hervor. Große Angsteinnflößende Männer. Alle sind bewaffnet und sehen nicht sehr freundlich aus. Die meisten sind nur knapp bekleidet mit Lederschürzen. Federn schmücken die Haare und sie haben eine dunkle Hautfarbe mit dicken schwarzen Haaren, welche von den Köpfen bis zur Brust oder länger reichen. Sind das die Einheimischen von denen man sich erzählt? Wenn ja, dann kann ich die Angst der Menschen verstehen. Einer tritt vor mich und redet in mir unverständlichen Lauten. Zwar würde er sowieso keine Antwort bekommen, doch ich weiß ja nicht mal was die Antwort sein könnte. Der Mann sieht mich abwartend ab. Als ich nicht antworte wiederholt er die Laute. Verzweifelt deute ich auf meinen Hals und schüttel dann den Kopf. Ich tu niemandem etwas, möchte nur zurück nach Brighton. Die Männer lachen. Es ist ein kehliges, dunkles Lachen, fast schon bedrohlich. Der Mann vor mir gibt wieder unverständliche Worte von sich. Ein anderer Mann tritt von hinten an mich heran. Schnell gehe ich auf Seite, doch überall sind auf einmal Männer. Einer verdeht meine Arme auf den Rücken und bindet sie fest, ein anderer nimmt meine Tasche und öffnet sie. Er dreht die Flasche auf und ich muss zusehen wie er mein hart erspartes Wasser auf den Felsen gießt. Das heimlich geklaute Brot probiert er einmal, spuckt er daraufhin sofort wieder aus und wirft es den Hang herunter. Das wars dann wohl. Die Hoffnung nach Hause zu kommen verschwindet mit einem Mal gänzlich, stattdessen werde ich von den unbekannten Männern weggezogen.
Mitten in den Bergen ist ein kleines Dorf aufgebaut. Große Zelte aus Leder werden zum wohnen genutzt, Stöcke sind als Halterungsvorichtungen in die Erde gesteckt und dort sind noch mehr Leute, die so aussehen wie die Männer. Frauen mit langen Zöpfen arbeiten verschiedene Sachen und Kinder in jedem Alter spielen oder helfen den Frauen. Ich werde an einem Pfahl festgemacht. Er erinnert mich an das Kolonial. Die Völker sind so gleich und doch verschieden. So wie es mir scheint hassen sie sich gegenseitig, ohne den anderen zu kennen. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Kurz versammeln sich alle, ich werde angestarrt und es wird geflüstert, doch schließlich verbleibe ich alleine. Kurz tritt jemand mit einem großen Umhang aus Leder aus einem der Zelte, beobachtet mich eine Zeit lang, doch dann verschwindet er wieder.
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Stolen from Britain, brought to America
Ficção HistóricaRuby lebt ihr einfaches Leben in Brighton. Sie wohnt bei ihrer Tante, seit ihre Eltern nach einem Tagesausflug spurlos verschwanden. Eines Tages wird Ruby jedoch entführt und mit anderen auf ein Schiff gebracht. Sie erfährt, dass sie nach Amerika ge...