Eine Zeit lang sitzen wir schweigend nebeneinander. Doch auf einmal springt Winnetou alamiert auf und sieht sich um. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtet er einen Punkt. ,,Schnell. Auf die Pferde." Verwirrt sehe ich zu ihm hoch. Was hat er denn auf einmal? Ungeduldig zieht er mich hoch. Innerhalb von zwei Minuten sitzen wir fertig auf den Pferden und reiten wieder los. ,,Kannst du schnell reiten?", fragt er mich und blickt sich immer wieder um. Ängstlich kralle ich mich in Makas Mähne. Noch nie bin ich getrabt, geschweige denn galoppiert. Der Schritt hat mir volkommen gereicht. Zögernd sehe ich ihn an. ,,Halt dich fest", sagt er noch und ehe ich weiß, was passiert, läuft Maka unter mir schneller. Unkoordiniert hüpfe ich auf seinem Rücken herum und nicht nur einmal wäre ich beinahe herunter gerutscht. Doch irgendwann werden Makas Schritte weicher und ich merke, dass wir bereits am galoppieren sind. In rasender Geschwindigkeit zieht die Landschaft an mir vorbei. Mein komplettes Vertrauen liegt nun bei Maka, dass er hinter Chephe her läuft. Nicht einmal wage ich es den Blick zu heben.
Erleichtert spüre ich wie Maka wieder langsamer läuft und schließlich ganz stehen bleibt. Ich richte mich wieder auf. Auf einmal umgibt mich eine ganz andere Landschaft. Wir sind in einem Wald, welcher aus hohen Bäumen und ein paar Büschen besteht. Immer wieder schaut Winnetou sich um. Wieso sagt er mir nicht, was passiert ist? Er steigt von Chephe und deutet, dass ich ebenso absteigen soll. Vorsichtig rutsche ich von Makas Rücken. Winnetou bricht einen Zweig von einem Busch ab und wickelt ihn in Chephes Mähne, bei Maka macht er dasselbe. Dann flüstert er den Pferden etwas zu und gibt ihnen einen sanften Schlag auf die Flanken. Mit lauten Hufgetrampel rennen sie davon. ,,Sie laufen ins Lager. Somit wissen die anderen, dass wir in Gefahr sind." Wir sind in Gefahr? Wieso? Was ist passiert? Winnetou legt einen Finger an seine Lippen und zieht mich zu einem Gebüsch. Wir hocken uns hinter das Gestrüpp und ich folge Winnetous Hand. ,,Weiße", knurrt er leise und legt einen Pfeil in seinen Bogen ein, schießt allerdings noch nicht. Die Männer durchsuchen die Büsche, als ob sie etwas suchen. ,,Habt ihr was gefunden?", schallt auf einmal eine Stimme durch den Wald, welche mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Kurz darauf bestätigt sich meine Vermutung und der Kapitän tritt in mein Sichtfeld. Hörbar schnappe ich nach Luft und bekomme einen verwirrten Blick von Winnetou. ,,Ich lenke sie ab, dann rennen wir dort hin", erklärt mir Winnetou seinen Plan. Wie in Trance nicke ich. Das darf nicht wahr sein. Was macht der Kapitän hier, so weit von der Kolonie entfernt? Doch bevor ich weiter nachdenken kann, lässt Winnetou den Pfeil los und zieht mich aus dem Gebüsch. Ich sehe noch, wie die Männer mit lauten Schreien zum Gebüsch stürzen, bevor Winnetou und ich durch den Wald sprinten. Blindlinks renne ich ihm einfach hinterher und bin ihm sehr dankbar, dass er meine Hand nicht loslässt. Allerdings hält die Ablenkung nicht lange und die Männer stürzen uns hinterher. Ein lauter Knall ertönt und ich spüre wie Winnetou zusammensackt. Voller Adrenalien schleppe ich ihn hinter einen großen Stein, welcher umgeben von Sträuchern ein gutes Versteck bietet. Mit großen Augen sehe ich auf Winnetous Bauch, wo das Leder sich dunkelrot färbt. Verzweifelt drücke ich meine Hände auf die Wunde. ,,Ruby", keucht er tonlos. Ich sehe in sein schmerzverzogenes Gesicht. ,,Mein Stamm wird mich finden. Du musst dich in Sicherheit bringen." Hastig schüttel ich den Kopf. Ich lasse ihn nicht hier liegen. Er legt eine Hand an meine Wange. ,,Geh Ruby. Du bist frei." ,,Winnetou", hauche ich ungläubig und bin selbst überrascht, dass ich es geschafft habe zu sprechen. ,,Du kannst sprechen", meint er und lächelt. ,,Ruby, hör mir zu. Lauf weg, nach Silvertown. Kehr zurück in deine Heimat. Du bist frei. Beeil dich, sie dürfen dich nicht kriegen." Ich weiß, dass Winnetou recht hat. Seine Wunde ist nicht lebensbedrohlich, sein Stamm wird ihn finden, doch ich will ihn nicht verlassen. ,,Jetzt lauf." Ich nicke und wische meine Hände notdürftig an meiner Kleidung ab. Ich werfe einen letzten Blick auf Winnetou, bevor ich leise aus dem Gebüsch breche und losrenne.
,,Da vorne ist sie", brüllt jemand. Sofort mache ich eine scharfe Linkswendung und renne in eine andere Richtung weiter. Doch wie aus dem Nichts steht auf einmal der Kapitän vor mir. Voller Wucht renne ich gegen ihn. Sofort legt er seine Arme um mich und hindert mich so am weglaufen. ,,Na kleine Ruby, hast du mich vermisst?", grinst er. Ängstlich sehe ich ihn an. ,,Kommt Männer. Lasst die Rothaut hier verotten. Ich hab, was ich will." Unwillig werde ich mitgezogen, wobei ich nicht nur einmal über eine Wurzel stolper.
Nicht lange sind wir unterwegs, als auf einmal ein Geheule durch den Wald dringt und kurz darauf mehrere Apachen, vorne Häuptling Sakima und Tohon, vor uns stehen. Sofort heben die Männer ihre Gewehre, doch die Apachen kommen von allen Seiten und richten ihre Bögen auf uns. ,,Senkt die Waffen und niemand wird verletzt", spricht Sakima mit erstaunlich ruhiger Stimme. Mit einer Bewegung zieht der Kapitän mich vor sich und hält mir sein Messer an den Hals. ,,Wenn einer von euch schießt, dann ist sie tot", droht er. Mit einer Handbewegung bringt Sakima alle Apachen dazu, die Waffen zu senken. ,,Ruby wo ist Winnetou?", fragt mich Sakima auf ihrer Sprache, damit die Männer des Kapitän nicht wissen worum es geht. Unmerklich deute ich nach rechts, die Richtung, aus welcher ich gekommen bin. Wissend nickt Sakima. Mittlerweile verstehe ich die Sprache der Apachen schon ganz gut, zumindest so gut, dass ich einfache Sachen kann. Dennoch haben alle mit mir englisch gesprochen, auch um die Sprache selbst zu üben. ,,Ruby gehört zu uns", spricht Häuptling Sakima wieder auf englisch. ,,Nein. Jetzt nicht mehr. Sie gehört mir. Und wenn ihr nicht wollt, dass wir euch alle abknallen, dann lasst ihr es auch besser so." Ich schüttel den Kopf um zu signalisieren, dass es sinnlos ist. ,,Gut. Nehmt sie mit", meint Sakima und die Apachen verschwinden wieder. ,,Was für Vögel, diese Rothäute", lacht der Kapitän und zieht mich weiter. ,,Dann wollen wir mal zurück zu deinem hübschen Zuhause", grinst er.
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Stolen from Britain, brought to America
Historical FictionRuby lebt ihr einfaches Leben in Brighton. Sie wohnt bei ihrer Tante, seit ihre Eltern nach einem Tagesausflug spurlos verschwanden. Eines Tages wird Ruby jedoch entführt und mit anderen auf ein Schiff gebracht. Sie erfährt, dass sie nach Amerika ge...