Kapitel 32

4.5K 183 0
                                    

Die schönste Zeit geht immer am schnellsten vorbei. Mir kommt es vor als wäre es erst vor einer Woche gewesen, als Winnetou und ich Tante Anne in Silvertown abgeholt haben. Dabei ist sie nun schon fast zwei Monate hier. Und die Kultur der Apachen scheint ihr zu gefallen. Vorallem in Klekih-Petra hat sie einen Seelenverwandten gefunden und nicht selten hört man amüsiertes Gelächter aus seinem Pueblo. Doch wie immer rast die Zeit und die Abreise von Tante Anne steht vor der Tür. Ich konnte ihre Ankunft kaum erwarten und nun, nachdem zwei Monde vergangen sind, möchte ich am liebsten die Zeit zurück drehen. Auch diesmal würde Winnetou mich mitgehen lassen. Mich zurück in meine Heimat lassen. Doch es wäre falsch. Auch wenn ich gar nicht an Tante Annes traurigen Augen beim Abreise denken mag. Und trotzdem muss ich hier bleiben. Aus Respekt zu Winnetou und den Apachen gegenüber. Sie haben so viel für mich getan, gaben mir nicht nur Essen, Wasser und einen Schlafplatz, sondern sie hießen mich willkommen. Nahmen mich auf und setzten ihr Leben für mich auf das Spiel. Es wäre undankbar einfach zu gehen, nach all dem was der Stamm für mich getan hat.

,,Ich wünschte, ich wäre gerade erst angekommen", sagt Tante Anne und streicht Weeko wehmütig über das Fell. ,,Es war eine Ehre für mich, dich in unserem Stamm begrüßen zu dürfen", meint Häuptling Sakima und neigt seinen Kopf etwas. ,,Ich danke euch allen für die Gastfreundschaft. Sehr gerne würde ich wiederkommen, doch ich fürchte eine weitere Reise ist zu aufwendig und teuer für mich." ,,Rubys Familie wird bei uns jederzeit Willkommen sein. Möge der Große Geist unseren Gast sicher bis in die ferne Heimat begleiten", ruft Häuptling Sakima aus. Die Apachen stimmen jubelnd seinen Worten zu. ,,Wir müssen los. Es ist ein weiter Ritt", spricht Winnetou leise. Ich steige auf Makas Rücken, während Winnetou sich elegant raufzieht. Ein Apache trägt einen Baumstumpf als Aufsteigshilfe für Tante Anne, mit welcher sie ebenfalls auf Weekos Rücken zu sitzen kommt. Der gesamte Stamm sieht schweigend dabei zu, wie wir davon reiten. Es wäre ein schönes Motiv für ein Bild. Und doch könnte kein Maler diesem Bild den Ausdruck verleihen, den diese Situation gerade hat. Nicht einmal ich bin in der Lage das zu beschreiben, was ich fühle. Es ist ein Gefühlschaos und nichts lässt sich ordentlich ordnen.

Das Feuer knistert unentwegt vor sich hin, Winnetou hat sich bereits schlafen gelegt, doch Tante Anne und ich können beide nicht schlafen. ,,Und du kommst wirklich nicht mit?", fragt sie leise. Ihre Stimme ist voller Trauer. Denn auch sie weiß, dass dies vermutlich unsere letzte gemeinsame Zeit ist. Langsam schüttel ich den Kopf. Es schmerzt mich, Tante Anne gehen zu lassen. Doch es würde mich bis in alle Ewigkeiten verfolgen, wenn ich einfach auf ein Schiff steige und den Stamm verlasse. ,,Ich kann es dir nicht mal verübeln, Ruby. Du bist alt genug um deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und ich akzeptiere deine Entscheidungen. Denn ich weiß wieso du es tust. Und ich weiß auch, dass du hier gut aufgehoben bist und du gut behandelt wirst." Sie sieht zu Winnetou, dessen Brust sich gleichmäßig hebt und senkt. Ein Zeichen, dass er tief schläft. ,,Vorallem bei ihm bist du gut aufgehoben. Er respektiert dich. Er ist ein wirklich ehrenhafter Mann. Wären doch die Männer in Brighton auch so", seufzt sie und lächelt schwelgend. ,,Aber eins musst du mir versprechen Ruby." Erwartungsvoll sehe ich Tante Anne an. ,,Du wirst mir regelmäßig Briefe schreiben, ja? Du bekommst natürlich auch welche zurück. Doch es ist der einzige Kontakt zu dir, welchen ich unbedingt halten möchte." Lächelnd nicke ich und hebe meinen kleinen Finger zum Versprechen. Sie hebt ihn ebefalls und wir verkreuzen sie. Eine Geste, welche Tante Anne mir als kleines Mädchen aus Spaß beigebracht hat, doch nun ist es zu einem gängigen Ritual geworden. Wann immer wir uns etwas versprechen oder schwören, besiegeln wir es mit dieser Bewegung. Unweigerlich denke ich an den letzten Schwur. Damals in Brighton, beim Abendessen, als ich Tante Anne versprochen hatte, nicht nach Amerika zu gehen. Nun, geschafft habe ich es leider nicht. Allerdings bin ich nicht freiwillig her gekommen. Und vermutlich wäre ich das auch nie. Niemals hätte ich dieses Land kennengelernt, die Apachen, Winnetou, wenn der Kapitän mich nicht mit auf sein Schiff genommen hätte. Ob ich nun froh darüber bin oder nicht, das weiß ich noch nicht genau. Das wird die Zukunft bringen.

Stolen from Britain, brought to AmericaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt