Auf mich gestützt verlassen William und ich das Pueblo. Häuptling Sakima wird gleich das Urteil bekannt geben. Die Sonne steht schon sehr tief und Winnetou ist von seinem Beobachtungsposten verschwunden. Stattdessen steht er nun mit Tohon hinter seinem Vater und Klekih-Petra. Der Häuptling hebt die Hand und es wird still. Zu still für meine Empfindung. ,,Die Entscheidung ist gefallen. Als Strafe für das unerlaubte Eindringen in unser Land und der Ausbeutung anderer Menschen werden alle bis auf drei Männer zurück nach England geschickt, um dort ihre gerechte Strafe in den Gefängnissen der Bleichgesichter abzusitzen. Die Männer namens Jacob und James werden ohne weiteres freigelassen, da sie nicht an den Straftaten beteiligt waren. Der Häuptling der Bleichgesichter wird meinem Sohn Winnetou übertragen. Er wird sich um die gerechte Strafe dieses Mannes kümmern, egal was es ist. Das Urteil wurde gesprochen", sagt Häuptling Sakima mit lauter Stimme. Kaum hat er geendet, beginnt Klekih-Petra alles auf englisch zu übersetzen, was erhebliche Einsprüche unter den Gefangenen bringt. ,,Ruby du Drecksstück", schreit der Kapitän, außer sich vor Wut, über das Urteil. Ich sehe wie Winnetou wütend die Fäuste ballt und geradewegs zum Kapitän herüber geht. Alle Apachen machen hastig Platz und alle warten angespannt darauf, dass etwas passiert. ,,Ich habe keine Angst", schleudert der Kapitän Winnetou mutig entgegen. Schneller als ich gucken kann, holt Winnetou aus und verpasst ihm einen Schlag mit der Faust. Laut schreit der Kapitän auf. Ohne ein Wort geht der Apache wieder zurück auf seinen alten Platz. ,,Die Versammlung ist aufgehoben", endet Häuptling Sakima und der Stamm zerstreut sich wieder. Immernoch geschockt von Winnetous Aktion stehe ich unbeweglich an Ort und Stelle. ,,Na komm. Lass uns wieder reingehen." Ich schüttel den Kopf und nehme Williams Arm von meiner Schulter. Vorsichtig lasse ich ihn los und er stützt sich an der Wand ab. ,,Wo willst du hin?" Ahnunglos zucke ich mit den Schultern. Ich weiß nicht wo ich hin will, aber hier möchte ich momentan nicht sein.
Niemals wollte ich das alles. Das Menschen wegen mir sterben oder bestraft werden. Ich wollte nur mein ruhiges Leben in Brighton leben. Gemeinsam mit Tante Anne. Ich wurde akzeptiert, hatte Freunde, obwohl ich nie sprach. ,,Wieso bist du gegangen?" Der junge Apache setzt sich neben mich. Wieder zucke ich mit den Schultern. ,,Mein Stamm feiert ein Fest, als Dank, dass der große Geist uns im Kampf beidstand und zum Sieg verholfen hat." Auffordernd sehe ich ihn an. Er soll seine Zeit nicht mit mir verschwenden, wenn sein Volk feiert. Leise seufzt er und blickt in die Ferne. ,,Ich mag Fest nicht. Natürlich danke ich dem großen Geist aus ganzen Herzen, doch das Fest... Es kommt mir schlecht vor, ausgelassen zu trinken und zu essen, während die Gefangenen durstig und hungernd daneben sitzen und zuschauen müssen." So viel Menschlichkeit hätte ich in Winnetou wahrlich nicht erwartet. Natürlich ist er durchaus sanfter und sensibler als sein Bruder, doch nach seinem Hass gegenüber dem Kapitän habe ich gesehen, dass Winnetou durchaus auch in der Lage zu anderen Sachen ist. Ich höre das gleichmäßige Trommeln von der anderen Bergseite. Weit bin ich nicht gegangen, um im Notfall schnell wieder in Lager zu sein. Trotzdem hat man hier seine Ruhe. ,,Du magst William sehr", stellt der Mann neben mir fest. Ich nicke. Ja, er bedeutet mir viel. Seit vielen Jahren ist er mein bester Freund und hat mir schon in so manchen misslichen Situationen geholfen. ,,Ich verstehe, wenn du mit ihm in deine Heimat fährst. Ich habe dich frei gelassen, nun sollst du deine Freiheit bekommen. Du bist ein tapferes Mädchen, Ruby. Auch wenn mir nicht wohl bei dem Gedanken ist, dich auf die lange Reise zu schicken. Aber du gehörst in deine Heimat." Da Winnetou mich nicht ansieht hebe ich meine Hand etwas und drehe sein Gesicht so, dass er mich ansieht. Dann schüttel ich den Kopf. ,,Ich kann nicht von dir verlangen hier zu bleiben. Dein Herz sehnt sich nach deiner Heimat, das spüre ich." Und egal wie sehr sich mein Herz nach Brighton zieht, ich werde hierbleiben. ,,Wenn du dich wirklich dafür entscheidest hier zu bleiben, dann bist du nicht länger Mein. Du darfst tun, was immer dir gefällt." Schweigend sehen wir uns an. Ich würde ihm gerne so viel erzählen, so viel sagen. Und doch bekomme ich keinen einzigen Ton über meine Lippen. Winnetou holt etwas aus seiner Tasche und hält mir schließlich seine geöffnete Hand hin. Eine braune Feder baumelt an einem schlichten Lederband. ,,Wenn du sie trägst, dann wird der große Geist immer über dich wachen." Kopfschüttelnd schließe ich seine Hand wieder zu einer Faust. Ich kann nicht auch noch ein Geschenk von ihm annehmen. ,,Nimm sie. Sie gehört dir." Vorsichtig zieht er mir sie über den Kopf. Es ist erstaunlich, was er alles für mich tut. Und ich kann ihm nicht einmal Danke sagen. ,,Ich weiß, dass du mir dankst. Auch wenn du nicht sprichst. Ich verstehe dich auch so." Er lächelt einmal und steht dann auf. ,,Mein Vater erwartet mich. Bleib ruhig noch." Mit diesen Worten verschwindet er hinter der Felsbiegung.
DU LIEST GERADE
Stolen from Britain, brought to America
Historical FictionRuby lebt ihr einfaches Leben in Brighton. Sie wohnt bei ihrer Tante, seit ihre Eltern nach einem Tagesausflug spurlos verschwanden. Eines Tages wird Ruby jedoch entführt und mit anderen auf ein Schiff gebracht. Sie erfährt, dass sie nach Amerika ge...