Seit vier Tagen ist Winnetou nun fort. Wenn alles glatt läuft, dann wird er morgen wieder kommen. Klekih-Petra war sehr verständnisvoll und hat mir viele Freiheiten gelassen. Meine Befürchtung, dass ich Probleme mit Winnetous Pferden haben werde, hat sich zum Glück erledigt. Es ist einfacher, als ich gedacht habe und ich hab schnell Vertrauen zu den großen Tieren bekommen. Am besten gefällt mir das braune Pferd. Winnetou hat mir die Namen gesagt, doch ich habe sie bereits wieder vergessen. Sie sind so untypisch, die Sprache klingt so fremd. Ohne Klekih-Petra wäre ich hier aufgeschmissen.
,,Ich bewundere deine Kochkünste, obwohl du hier kaum etwas kennst. Beeindruckend", sagt Klekih-Petra zufrieden und stellt seine leere Schale vor sich. ,,Danke", murmel ich leise und im selben Augenblick sehe ich hoch. Ich hab gesprochen. Ich hab es tatsächlich geschafft mit Klekih-Petra zu reden. Verwundert sieht er zu mir. ,,Haben meine Ohren mich getäuscht, oder hast du gesprochen?" ,,Es dauert immer lange", sage ich langsam und bedacht, denke über jedes Wort nach, bevor ich rede. Die Ungläubigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben. ,,Wieso hast du gesagt, du kannst nicht reden?" Ich sehe ihn lange an und überlege, wie ich es ihm am besten sage. ,,Ich rede nur mit Tante Anne. Und jetzt mit dir." ,,Das ist eine große Ehre für mich. Gibt es dafür einen Grund?" Ich schüttel den Kopf. ,,Es kommt einfach." Er lächelt. ,,Dann will ich deine Stimme nicht zu sehr strapazieren." ,,Bitte sag es niemandem", murmel ich leise. ,,Wenn das dein Wunsch ist, dann werde ich das respektieren. Auch Winnetou wird nichts von mir erfahren." Dankbar lächel ich dem alten Mann zu.
Laute Rufe lassen mich von meiner Arbeit aufsehen. Die anderen unterbrechen ihre Arbeit ebenfalls und gehen den Hang entlang. Kurz darauf erscheinen drei Reiter, welche ich schnell als Häuptling Sakima, Winnetou und Tohon identifiziere. Freudig werden sie von ihrem Stamm begrüßt. Winnetou überreicht mir seinen Hengst Chephe. ,,Kümmer dich gut um ihn. Er hat sich eine Pause verdient." Er streicht seinem treuen Pferd über den Hals und folgt dann seinem Vater zu den Pueblos. Brav läuft Chephe neben mir her, während ich ihn zum kleinen Bach, ganz in der Nähe des Dorfes führe. Während er trinkt denke ich über Brighton nach. Vielleicht kann ich Tante Anne ja einen Brief schreiben. Wieso bin ich noch nicht früher auf die Idee gekommen. Ein Brief, ein Lebenszeichen, das würde ihr schon genügen. Ich hoffe, dass Winnetou es mir erlaubt. Nachdem Chephe fertig ist, bringe ich ihn zurück zu seiner Herde. Ich muss Klekih-Petra von meiner Idee erzählen, damit er Winnetou fragt. Bei mir würde das mit Zeichensprache zu lange dauern.
Also suche ich Klekih-Petra auf, welcher vor seinem Pueblo sitzt und die Sonne genießt. ,,Ruby, was kann ich für dich tun?" Kurz sehe ich mich um, ob wir alleine sind. ,,Ich möchte Tante Anne einen Brief schicken." Er nickt. ,,Das kann ich gut nachvollziehen. Was ist dein Problem?" Etwas verlegen sehe ich auf den Boden. ,,Würdest du Winnetou fragen?" ,,Traust du dich nicht?" Schnell schüttel ich den Kopf. Natürlich traue ich mich. ,,Es würde zu lange dauern, es ohne Worte zu erklären." ,,Natürlich. Das verstehe ich. Ich werde Winnetou fragen. Jetzt mach dich wieder an die Arbeit." ,,Danke", sage ich schnell und lächel ihm zu. Ich spüre wie mein Hals unangenehm kratzt. Die Unterhaltung mit Klekih-Petra hat mich angestrengt, doch ich mag es mit ihm zu reden. Er gibt mir das Gefühl normal zu sein.
Geschafft von der Arbeit betrete ich das Pueblo und will mich für die Nacht fertig machen. Auf einmal fällt mir der Bogen Papier an meinem Schlafplatz auf. Darauf liegt eine Schreibfeder und ein kleines Tintenfass. Klekih-Petra hat Winnetou tatsächlich überredet bekommen. Schnell erledige ich die wenige restliche Arbeit im Pueblo und setze mich dann neben meinen Schlafplatz. In dem Moment betritt Winnetou das Pueblo. ,,Klekih-Petra erzählte mir von deinem Anliegen. Diese Sachen gehören nun dir. Anschließend werden wir zum Fort reiten und dort den Brief wegbringen. Du hast ein Recht, deiner Familie deinen Zustand mitzuteilen." Dankbar lächel ich ihm zu. Sofort setze ich mich an Feuer, lege mir den Bogen Papier zurecht und tauche die Feder in die Tinte. Dann fange ich einfach an zu schreiben, ohne groß darüber nachzudenken.
Liebe Tante Anne,
ich weiß, dass du dir furchtbare Sorgen um mich machst. Doch ich kann dich beruhigen. Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Bestimmt möchtest du wissen was vorgefallen ist. William und ich wurden von fremden Männern auf ein Schiff entführt. Dort waren noch mehr Entführte. Wir erfuhren, dass wir nach Amerika gebracht werden, wo ich mich momentan noch befinde. Dort sollten wir beim Aufbau einer Kolonie helfen und danach weiterverkauft werden. Wir Sklaven planten einen Fluchtversuch und setzten ihn in die Tat um. Leider hatten William und ich nicht so viel Glück. Wir verloren uns und ich landete unfreiwillig in den Fängen der Einheimischen. Sie wollten mich sterben lassen, doch ein anderer Stamm der Einheimischen rettete mich. Nun lebe ich hier und helfe bei der Arbeit. Keine Angst, ich werde gut behandelt, doch ich kann nicht zurückkehren. Nach dem Gesetz der Apachen gehöre ich nun einem jungen Apachen namens Winnetou. Er hat mich vor dem Tod bewahrt. Ich vermisse dich sehr, dich und meine Heimat, doch es ist mir nicht möglich zurückzukehren. Ich hoffe dennoch, dass dieser Brief ein Trost für dich ist.
Leb wohl, Tante Anne
In Liebe, deine RubySo gut wie möglich versuche ich meine Tränen zurückzuhalten, allerdings schaffe ich es nicht und eine Träne tropft auf das Papier. Traurig sehe ich zu wie meine Träne einen dunklen Fleck hinterlässt. ,,Bist du fertig?" Leicht hebe ich meinen Kopf. Ich habe Winnetou gar nicht gehört. Schnell wische ich mir über die Augen und reiche ihm den Papierbogen. ,,Wir reiten in drei Tagen los. Kannst du reiten?" Wenn man die paar mal, die ich auf Tante Annes Ackergaul saß, als reiten bezeichnen kann, dann schon. Da ich aber weiß, was es hier für Ansprüche gibt, schüttel ich den Kopf. ,,Dein Pferd wird ein ganz Braves sein. Versprochen." Ich meine sogar ein zartes Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Doch vielleicht habe ich mich auch geirrt. Ich stehe auf und warte ab, ob er mir noch eine Aufgabe gibt. ,,Ruh dich aus. Du hast heute gut gearbeitet." Mit den Worten verlässt er das Pueblo und lässt mich allein.
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Stolen from Britain, brought to America
Historical FictionRuby lebt ihr einfaches Leben in Brighton. Sie wohnt bei ihrer Tante, seit ihre Eltern nach einem Tagesausflug spurlos verschwanden. Eines Tages wird Ruby jedoch entführt und mit anderen auf ein Schiff gebracht. Sie erfährt, dass sie nach Amerika ge...