Kapitel 22

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Ziellos irre ich durch die engen Gassen. Kein Entkommen aus dem riesigen Labyrinth. Egal wohin ich abbiege ich komme immer an derselben Stelle raus. Vor Verzweiflung laufen mir die Tränen übers Gesicht und ich will stehen bleiben, doch meine Beine zwingen mich weiter zulaufen. Immer wieder höre ich meine eigene verzweifelte Stimme und kann mich doch nicht erinnern, sie benutzt zu haben. ,,Mutter, Vater." Das Echo hallt durch die dunklen Gassen. Immer wieder, bis es verklingt und die Stimme erneut nach meinen Eltern ruft. Immer und immer wieder, während meine Beine mich durch die dunklen Gassen tragen. Mein Kleid ist schmutzig und mir ist kalt. Doch es ist kein Ausgang in Sicht.

,,Ruby." Schluchzend schlage ich die Augen auf und blicke in Winnetous vertrautes Gesicht. Feste schlinge mich meine Arme um seinen Hals, auch wenn das bei den Apachen so nicht Brauch ist. Doch seine Nähe tut gut, sein vertrauter Geruch beruhigt mich, während seine starke Hand meinen Rücken hoch und runter fährt. ,,Es war nur ein Traum", flüstert er mir sanft zu. Schluchzend schüttel ich den Kopf und vergrabe meinen Kopf an seiner Schulter. Es war kein Traum. Es war Realität. Meine Eltern sind verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Doch das weiß Winnetou nicht. Nicht mal Klekih-Petra habe ich es erzählt. Und er hat auch nie nachgefragt wieso ich bei Tante Anne wohnte. Nie hat er mich gezwungen ihm etwas zu erzählen, er hat immer nur schweigend zugehört.

Allmählich beruhige ich mich wieder, doch der junge Apache löst nicht seine Arme von mir. Er hält mich fest, murmelt mir beruhigende Worte zu und gibt mir das Gefühl von Sicherheit. Sanft sieht er mich an und streicht mir die letzten Tränen aus dem Gesicht. Er fragt nicht nach, will nicht wissen worüber ich geträumt habe und dafür bin ich ihm dankbar. Zumal ich es ihm ohne Worte gar nicht erklären könnte. Vorsichtig löst Winnetou seine Arme von mir und steht auf. Ich beobachte, wie er etwas aus einer Ecke hervor holt. Es ist ein runder Kreis mit Fäden in der Mitte, welche ein schönes Muster ergeben. In den Fäden sind ein paar Perlen aus Holz eingeflochten. Unten hängen an drei Schnüren mehrere Federn. ,,Das ist ein Träumfänger. Er fängt die bösen Träume ein und lässt die Guten durch. Damit brauchst du keine Angst zu haben", lächelt er und befestigt das Schmuckstück am Eingang des Pueblos. Ich weiß nicht, ob es der Glauben ist, Winnetous Anwesenheit oder ob an dem Träumfänger tatsächlich etwas Wahres ist. Jedoch konnte ich sehr schnell und problemlos einschlafen, und diesmal konnte ich auch durchschlafen.

So wie am Vortag ist Winnetou nicht mehr da, als ich aufwache, jedoch steht wieder eine Schale verschiedenster Beeren neben mir. Nach dem kleinen Frühstück stehe ich auf, flechte meine zerzausten Haare zu einem schnellen Zopf und trete dann raus. Ich frage mich, wieso Winnetou mich nicht mehr weckt. Schließlich gehe ich davon aus, weiterhin seine Arbeit zu erledigen. Die anderen Frauen sind schon längst dabei ihrer täglichen Arbeit nachzugehen und kaum einer achtet noch auf die Gefangenen, welche jetzt zu mehreren an einen Pfosten gebunden wurden. Wie am Vortag auch, sitzt Winnetou vor dem Pfahl des Kapitäns und beobachtet ihn. Zwei Apachen gehen mit Wasserbeuteln herum und flößen jedem etwas ein. Doch als sie beim Kapitän ankommen, winkt Winnetou sie weiter und er bekommt somit kein Wasser. ,,Ruby." Ich drehe mich etwas und sehe Klekih-Petra. ,,William ist wach. Er würde dich gerne sehen." Ich nicke und trete in Klekih-Petras Pueblo ein, welches nicht weit von Winnetous entfernt ist. William sitzt an die Wand gelehnt auf der Liege und beginnt zu lächeln, als er mich sieht. Es geht ihm schon deutlich besser als gestern, sein Gesicht ist nicht mehr so blass und er scheint nicht mehr so starke Schmerzen zu haben. Klekih-Petra hat ein wahres Wunder geleistet. Ich setze mich neben meinen alten Freund. ,,Klekih-Petra hat mir ein paar Sachen erklärt. Niemals hätte ich gedacht, dass die Einheimischen so nett und gerecht sind." Ich nicke zustimmend. ,,Du kommst doch auch wieder zurück nach Brighton oder? Er meinte, du darfst gehen." Traurig senke ich den Kopf. Ich kann nicht mit. Ich kann Winnetou nicht verlassen. Nicht, nachdem er das alles getan hat. ,,Du bleibst freiwillig hier?" Leicht nicke ich. ,,Bist du etwa in den Indianer verliebt?", lacht er und knufft mir spielerisch in die Seite. Empört schlage ich ihm gegen den Arm. ,,Aua, ist ja schon gut. Entschuldige. Du bleibst, weil er dir das Leben gerettet hat, richtig?" Wieder nicke ich. ,,Das verstehe ich. Sehr gut sogar. Und ich werde dich vermissen. Aber wenigstens weiß ich, dass es dir hier gut geht und er für dich sorgt. Ich habe mir schreckliche Vorwürfe gemacht." Fragend sehe ich ihn an. Er seufzt einmal leise. ,,Sicher möchtest du wissen, was passiert ist." Wieder nicke ich. ,,Na schön. Nach unserer Flucht habe ich versucht mich hinter einem Stein zu verstecken. Doch natürlich fanden sie mich. Ich musste dafür büßen, dass alle verschwundene waren. Es hatten tatsächlich alle geschafft. Alle außer ich. Aber das war das Risiko. Und ich würde es wieder machen. Ich wurde ausgepeischt. Mehrmals. Geschlagen auch, musste tagelang hungern und hart arbeiten. Schließlich musste ich die Arbeit der anderen auch noch übernehmen. Ich kam erst spät Nachts ins Bett und musste morgens wieder früh aufstehen. Machte ich etwas falsch, wurde ich bestraft." William zieht sein Oberteil hoch und offenbart mir einen mit Striemen übersäten Rücken. Fassunglos streiche ich über die teilweise noch nicht verheilten Wunden. ,,Es gab nur zwei Leute, welche nett zu mir waren. Jacob und James. Sie ließen mich morgens länger schlafen, wenn sie Dienst hatten und gaben mir fast meine dreifache Tagesration an Essen. Alle anderen behandelten mich, wie man einen Sklaven halt behandelt. Wie ein Stück Dreck. Genau das erzählte ich eben aich Klekih-Petra und er wollte mit Häuptling Sakima reden, um den beiden Gnade zu geben." Leicht  lehne ich mich an William. Ich bin ja so glücklich, dass es ihm gut geht. ,,Ich habe dich so vermisst Ruby", flüstert er und drückt mir sanft einen Kuss auf die Stirn. Immer schon war er für mich wie der große Bruder, den ich nie hatte.

Stolen from Britain, brought to AmericaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt