Kapitel 1

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Wie jeden Tag hänge ich die alte Wäsche vom Vortag ab und falte sie ordentlich. Danach hänge ich die frischen Sachen an die Leine, damit sie bei den warmen Temperaturen trocknen können.
,,Ruby, komm bitte nach der Wäsche rein und hilf mir beim Abendessen", ruft meine Tante durch das Fenster. Als Antwort nicke ich, doch ich weiß, dass sie es versteht. Nur sie tut es. Seit dem einen Tag an dem meine Eltern nicht zurückkamen.

,,Oh Ruby, ich liebe deine Kochkünste", freut sich Tante Anne und nimmt sich noch einmal etwas vom Eintopf.
,,Magst du auch noch etwas haben?" Lächelnd schüttel ich den Kopf und schiebe meinen Teller etwas von mir. ,,Die Leute im Dorf sprechen nur noch über dieses Amerika." Tante Anne seufzt. Ich hab die Zeitungen gesehen. Überall wird dort für ein besseres Leben geworben. Falls man die wochenlange Schifffahrt überlebt. Aber das alles hört sich meiner Meinung nach nicht sicher an. Ich bleibe lieber hier in Brighton, bei meiner Tante. Abseits der Stadt und trotzdem unter Leuten.
,,Versprich mir, dass die niemals dort rüber gehst. Ich habe schlimme Sachen darüber gehört. Seuchen, Hunger, wilde Tiere und blutrünstige Einheimische." Ich hebe meine Hand und strecke den kleinen Finger aus. Ich habe kein Bedürfnis zu diesem Amerika zu gehen. Erleichtert lächelt Tante Anne. ,,Du bist mir ein anständiges Mädchen. Geh in das Dorf und besorg noch schnell ein Brot beim Bäcker, bevor er schließt. Der Rest wird kaum für das Frühstück reichen." Ich blicke auf die letzten Brocken Brot, welche noch von der Suppe übrig sind.

So wie immer räume ich die Teller zusammen. ,,Geh ruhig, sonst bekommst du nichts mehr. Ich mach das hier. Nimm dir ein paar Münzen mit." Ich nicke und ziehe mir meine Jacke über. Mein Blick fällt auf die Brotkrümmel auf dem Tuch. ,,Bring es den Hühnern", beantwortet Tante Anne meinen fragenden Blick. Ich falte das Tuch, nehme mir zwei Münzen und verlasse das Haus. Vor dem Haus leere ich das Tuch vor den Hühnern aus und lege es anschließend auf die Treppe, damit ich es gleich mit rein nehmen kann.

Der Weg zum Bäcker ist nicht weit und schon bald erkenne ich die ersten Hausfassaden. ,,Guten Tag Ruby. Was darf es sein?", begrüßt mich der Bäcker freundlich. Leicht lächelnd deute ich auf eins der Brote. Er nickt und packt es in das Tuch, welches ich ihm reiche. ,,Bitte sag deiner Tante, dass ich morgen zwei Eier mehr brauche." Ich reiche ihm die Münzen, nicke als Antwort und hebe zum Abschied meine Hand. ,,Auf Wiedersehen, Ruby", sagt der Bäcker und ich gehe wieder auf die kleine Straße. Das Brot stecke ich in meine Tasche, welche an das Kleid genäht würde.

Wie immer laufe ich einen anderen Weg zurück zum kleinen Hof meiner Tante. Und wie immer führt mich der Weg an der kleinen Gaststätte vorbei.
,,Guten Tag, Ruby", begrüßt mich William, ein junger Kerl, den so manch einer sehr attraktiv findet. So hab ich das aus den Gesprächen der Mädchen raus gehört. Ich hebe ebenfalls zum Gruß die Hand und lächel einmal. ,,Setz dich doch zu uns." Er deutet auf den halbvollen Tisch. Ich schüttel meinen Kopf, deute auf das Brot und dann in die Richtung wo der Hof liegt.

Kurz bevor ich den Hof erreiche ziehen Wolken auf und der Wind weht frischer. Kaum betrete ich die Treppe, welche zum Haus führt, fallen die ersten Tropfen. Die Tür geht auf und Tante Anne kommt raus. ,,Schnell, hilf mit bei den Tieren und der Wäsche." Ich lege das Brot auf den kleinen Tisch im Flur und folge ihr nach draußen. Während sie die Hühner in den Stall lockt, hänge ich die Laken von der Leine und bringe sie durch die Hintertür ins Haus. Zum Schluss schließe ich noch die Fensterläden.
,,Typisch England. Immer dieses Wetter", schimpft Tante Anne und legt das Brot in die Küche.
,,Lass uns gemeinsam die Wäsche im Keller aufhängen und dann machen wir uns einen gemütlichen Abend." Zustimmend nicke ich und nehme den Korb mit der Wäsche.

Im Kamin brennt das Feuer und ich sitze mit Tante Anne auf dem Sofa. Sie strickt und erzählt mir, wie so oft, Geschichten. Ich liebe ihre Erzählungen, dabei kann man immer abtauchen, in ganz unterschiedliche Welten. Mit einer Tasse Tee in der Hand und den Regentropfen im Hintergrund, ist das der perfekte Zeitpunkt.

Stolen from Britain, brought to AmericaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt